Abschied und Willkomm
Das soll er sein, der letzte Eintrag auf diesem Blog. Sollte man sich die Mühe machen, die Historie dieses Mikromediums nachzuverfolgen, könnte man unschwer feststellen, dass die Frequenz der Einträge in den vergangenen Monaten merklich zurückgegangen ist. Das ließe sich als nachlassendes Interesse interpretieren. Tatsächlich hat es aber mit der Umleitung meiner Schreibenergie zu tun. So viel Vergnügen mir das Blogschreiben auch bereitet, so ist es doch nur ein Buchstabenfeld neben anderen, das zu beackern ist. Daher habe ich den Entschluss gefasst, nicht das Bloggen aufzugeben, aber seine Form zu verändern. Anstatt nur sporadisch alle paar Wochen (oder gar Monate) einmal die Zeit zu finden, mich an dieser Stelle zu äußern und das Blog auf diese Weise zu einem Nebenhermedium zu machen, will ich es zukünftig konzentrierter und gleichzeitig ausgiebiger nutzen: als Mitteilungsform, das seinen Möglichkeiten gerecht wird, als aktuelles, auf eingreifendes Kommentieren angelegtes und nicht zuletzt auch ephemeres Medium. Man könnte auch sagen, dass ich mich medial meinem wissenschaftlichen Forschungsgebiet, der frühneuzeitlichen Geschichte, annähere. Denn zumindest das 16. und 17. Jahrhundert waren in Europa nicht zuletzt durch das Medium des Flugblatts geprägt, das seine Nachrichten dann in der Welt verbreitete, wenn es etwas zu berichten gab. Erst im Verlauf des 17. Jahrhunderts erlebte die regelmäßig publizierte Zeitung ihren allmählichen Aufstieg, die nicht dann erschien, wenn etwas Berichtenswertes geschehen war, sondern immer erschien, unabhängig davon, was in der (nicht) Welt vor sich ging. Ich werde mich blogmäßig in Richtung Flugblatt orientieren. Und die nächste Gelegenheit für den adäquaten Einsatz dieser Technik lässt nicht lange auf sich warten. 2017 steht uns der nächste historische Jubiläumshype ins Haus. 500 Jahre Reformation sollen nicht nur gefeiert werden, sondern werden in eiliger Vorfreude schon längst begangen. Zeit also, als teilnehmender Beobachter für eine Weile diesen Geburtstagsfeierlichkeiten beizuwohnen. Ein Jahr lang werde ich vom 1. November 2016 bis zum 31. Oktober 2017 meine Aufmerksamkeit nicht nur Martin Luther, der Reformation und den dazugehörigen Jubiläumsveranstaltungen widmen (und damit einen weiteren Bezug zum Flugblattzeitalter eröffnen), sondern vor allem der deutschen Geschichtskultur den einen oder anderen Besuch abstatten. Titel des Ganzen: Mein Jahr mit Luther. Unterwegs in der deutschen Geschichtskultur
Lebensveränderungen
Ich schließe also eine Geschichte ab, beginne an ihrer statt eine neue. Und wenn auch von einer noch so peripheren Position, wenn auch in einer noch so marginalen Situation, so tue ich damit doch etwas, das für unsere gegenwärtige Konstitution von Historizität nicht ganz unbedeutend ist und das sich dank des Internet in massenhafter Weise verbreitet und demokratisiert hat. Es geht um die öffentliche Zurschaustellung der Veränderung des eigenen Lebenswandels, um den publikumswirksam inszenierten Bruch in der eigenen Biographie, um die von Fanfarenstößen begleitete Richtungsänderung im Lebenslauf. Insbesondere ‚Prominenz‘ beruht einem sehr allgemeinen und vagen Sinn nicht zuletzt darauf, stellvertretend für uns alle ein Leben zu leben, das mit all seinen Windungen in exemplarischer Weise erstrebenswert zu sein scheint – und damit Biographien vorlebt, mit denen man sich in positiver oder negativer Weise identifizieren kann. Hier wird Geschichte gemacht, indem die eigene Lebensgeschichte (immer wieder anders) gemacht wird.
Beispiele dafür gibt es in so großer Anzahl, dass sich eine Auflistung kaum lohnt. Jeder Blick in entsprechende Hochglanzmagazine, Talkshows, Lebensgeschichtsbücher, YouTube-Kanäle oder – jawohl! – Blogs offenbart Myriaden an Exempeln, mit denen die eigene Lebensveränderung zum potentiellen Vorbild für alle anderen inszeniert wird. Da begeben sich Menschen zur Sinnsuche auf den Jakobsweg nach Santiago de Compostela; da wird die Familiengründung samt Geburt des ersten Kindes als galaktisch bedeutsames Ereignis vorgeführt; da werden die eigenen Drogenprobleme in aller Öffentlichkeit ausgebreitet, um anschließend sowohl den Entzug wie auch den vorprogrammierten Rückfall nicht minder medienwirksam vorzuführen; da wird der Verlust einer hinreichenden Menge eigenen Körpergewichts als Ereignis gefeiert und als der ideale Weg angeboten, um das eigene Leben zu verbessern, am besten gleich als Buch und auf Blue-Ray; oder da wird der Tod eines nahen Verwandten als so gravierender Schicksalsschlag angesehen, dass der Rest der Welt unbedingt davon erfahren muss – und natürlich von den Konsequenzen, die das für die Hinterbliebenen hat. Mit anderen Worten: Es handelt sich um ganz normale und größtenteils sogar sehr banale Dinge, die jedem und allen von uns in der einen oder anderen Art und Weise zustoßen können. Nur fehlt uns entweder der Zugang zu den entsprechenden medialen Verbreitungskanälen, um den Rest der Welt daran teilhaben zu lassen, oder wir sind nicht narzisstisch genug, um uns derart in der Öffentlichkeit zu entblößen, oder wir verdienen unseren Lebensunterhalt nicht dadurch, die Menschheit mit unserem Leben zu unterhalten.
Kairós
Selbstredend ist die Erkenntnis nicht besonders aufregend, dass all diese Menschen etwas tun, das zum Trivialsten gehört, das sich nur denken lässt. Sie ändern ihr Leben, indem sie es einfach leben – und weil sei es leben, ändert es sich. Aber der wirklich gravierende Unterschied ist: Ein auf diese Art in der Öffentlichkeit geführtes Leben könnte überhaupt nicht funktionieren, wenn es nicht von uns allen mit- und nachgelebt würde, wenn wir es nicht affirmativ übernehmen oder uns kontrastiv davon distanzieren würden. Hier wird also nicht einfach nur die individuelle Historizität eines Lebens vorgelebt, sondern hier wird stellvertretend für uns alle ein mögliches Leben durchgestaltet.
Die Idee, die dahintersteckt, ist relativ leicht zu durchschauen und hört – wenn man an dieser Stelle die bildungsbürgerliche Referenz der griechisch-römischen Antike aufrufen möchte – auf den Namen kairós. Es ist dieser richtige Zeitpunkt, den man zu erwischen hat, diese eine Gelegenheit, die den Lauf der Dinge entscheidend verändern kann und die in emblematischen Darstellungen gern als Figur mit einem Haarschopf an der Stirn abgebildet wurde. Wenn man dort nicht im richtigen Moment zupackte, glitt man an der glattrasierten Hinterseite des Kopfes ab und der kairós war entschwunden.
Die Bezüge zu dem immer wieder aktuellen Gerede darüber, dass man sein Leben ändern und die Selbstverwirklichung finden solle, sind relativ offensichtlich. Die Historie des eigenen Lebens läuft vermeintlich hinaus auf eine eben solche Konvergenz der Zeiten, auf ein Zusammenklappen von zurückgelassener Vergangenheit und neu eröffneter Zukunft im richtigen Moment, im kairós der Gegenwart. Aber bei aller möglichen Einsicht in ein Alles-schon-mal-dagewesen sollten nicht die Unterschiede zu diesem antiken Vorläufer übersehen werden. Denn während der kairós etwas von außen Kommendes war, das man zu erwarten hatte, suggerieren einem heutige Lebensveränderungsexperten, dass wir alles selbst in der Hand hätten. Jeder ist seines Glückes Schmied, so könnte man etwas altdeutsch formulieren. Die Selbstoptimierungstrainer würden es sicherlich etwas anders, aber nicht wesentlich inhaltsreicher auf den Punkt bringen. Das wäre dann die Errungenschaft einer hinreichend kapitalisierten Aufklärung, auf die Gelegenheiten nicht mehr warten zu müssen, sondern sie selbst herbeiführen zu können. Und damit wären wir auch schon bei den Schlagworten, die durch ein personality training dieser oder jener Art verkauft werden, dass man sich nämlich selbst neu erfinden müsse, dass man es selbst schaffen könne, dass sich die Welt nach einem zu richten habe – und was der unfreiwilligen Selbstparodisierung noch mehr ist.
Rückführung in die Verwertungskette
Warum aber wirken all diese öffentlich vollzogenen Metamorphosen, all diese publikumswirksam platzierten Lebensveränderungsgeschichten zumindest unterschwellig, häufig auch recht offensichtlich: unglaubwürdig? Es liegt nicht nur daran, dass der halbwegs wache und kritische Verstand schon aufgrund der Tatsache aufmerksam werden müsste, dass eine neu gefundene Lebenszufriedenheit sich immer gleich marktschreierisch äußern und den neu eingeschlagenen Lebensweg unbedingt allen anderen mitteilen muss – anstatt das zu tun, was man von zufriedenen Menschen erwarten könnte, nämlich einfach mit sich und der Welt zufrieden zu sein. Es liegt auch nicht nur daran, dass man schon rein ökonomisch überhaupt erst einmal dazu in der Lage sein muss, eine solche Lebensmetamorphose zu vollziehen, ein sabbatical einzulegen, zur Sinnsuche nach Asien zu reisen oder sich monatelang allein auf sich selbst zu besinnen, ohne Sorge zu haben, dass morgen der Kühlschrank leer sein könnte. Nein, diese Metamorphosen können vor allem deswegen nicht überzeugen, weil sie notorisch außen vor lassen, dass sie die Zeiten und Geschichten, mit denen sie gleichsam wie mit Jonglierbällen zu hantieren scheinen, eben nicht so selbstbestimmt in der Luft halten, wie sie uns suggerieren. Die Leben, die hier beständig verändert und verbessert werden sollen, werden nämlich immer schon zu einem erheblichen Grad von anderen Umständen gelebt; und die Zeiten, die hier in einem günstigen, selbst gewählten Punkt konvergieren sollen, sind immer schon von anderen gezeitet.
Den Beleg für diese Vermutung liefern all diese Lebensveränderungsgeschichten immer schon selbst. Denn nicht nur, dass sie möglichst öffentlichkeitswirksam vollzogen werden müssen, sie müssen vor allem wieder in die ökonomische Verwertungskette eingespeist werden. Der vermeintliche Auszug aus dem Hamsterrad ist tatsächlich nur der Umzug in ein neues Hamsterrad. Das Buch zum Film zur App zur Vortragstournee liegt ja bereits kaufbereit aus. Und der Erfolg dieser Kommerzialisierungen bietet dann auch den Aufschlag für die nächste öffentlich vorgeführte Lebensverwandlung, die unterschiedlichen Inhalts sein kann: Der Fluch des Erfolgs, Mein Weg zum Erfolg, Worauf es wirklich ankommt, oder andere Lebensberater ähnlicher Art. Anstatt also sein Leben wirklich selbstbestimmt zu gestalten, unterwirft man es erneut und auf höchst heuchlerische Weise einer ökonomischen Temporalisierung, die beständig mehr und beständig anderes will – weshalb man sein Leben ja auch in regelmäßigen Abständen immer wieder ändern muss.