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Friedhof

Blätterleichen

Der November ist eigentlich ein angemessener Monat, um sich einmal den letzten Dingen zuzuwenden. Als Todesmonat mit Allerheiligen und Totensonntag und Volkstrauertag und Halloween und herabfallenden Blätterleichen, die milliardenfach den Boden bedecken und nur noch deprimierende Baumskelette stehen lassen, zwingt er gerade in seiner neblig-grauen, die Sicht bis auf wenige Meter einschränkenden Erscheinungsform dazu, die Nähe des Todes ernst zu nehmen. Wann, wenn nicht jetzt, lohnt sich ein Besuch auf dem Friedhof – selbst wenn man meint, dort gar nichts verloren zu haben?

Sicherlich gibt es das eine oder andere Argument, das sich anführen ließe, um von einem solchen Gang eher abzusehen. Möglicherwiese liegen dort gar keine Verwandten oder Bekannten, die man besuchen könnte. Oder sie liegen zwar auf einem Friedhof, aber in größerer Entfernung, so dass die Ruhestätte, die in halbwegs erreichbarer Nähe ist, keinen Besuchsanlass bietet. Was aber will man auf einem Friedhof, auf dem sich weder Anverwandte noch Berühmtheiten befinden, wenn nicht einem allgemeinen Gefühl der Morbidität frönen? Und ist es nicht überhaupt seltsam, von einem ‚Besuch‘ zu sprechen, wenn es um den Gang auf den Friedhof geht? ‚Besuchen‘ wir nicht möglicherweise uns selbst und unsere eigene Sterblichkeit, die mit jeder Feststellung der Lebensdaten auf einem Grabstein von neuem an unser Hinterstübchen klopft? Und ist der Friedhof nicht der älteren Seniorenbevölkerung vorbehalten, die dort Menschen ihre Reverenz erweisen, die möglicherweise jünger, aber auf jeden Fall toter sind als sie selbst?

Historisierungen des Lebens und des Sterbens

Historisierungen aller Art, also die Einordnungen von Kollektiven in einen größeren zeitlichen Sinnzusammenhang, haben ihren Grund sicherlich nicht ausschließlich, aber ganz wesentlich in der Abstrahierung individueller Lebenserfahrungen in Richtung größerer Zusammenhänge. Deswegen lässt sich füglich über die Geburt, das Wachstum, das Alter oder den Tod von Staaten, Zivilisationen, Imperien und anderen kulturellen Phänomenen sprechen. Solche anthropologisierenden Deutungen sind hinreichend etabliert, seit es ein Nachdenken über geschichliche Zusammenhänge gibt. Es scheint daher nicht allzu weit hergeholt, auch den umgekehrten Weg einzuschlagen und nach den alltäglichen und vermeintlich so selbstverständlichen Historisierungsformen zu fragen, mit denen wir nicht nur unseren Lebensalltag gestalten, sondern auch unser Leben alltäglich gestalten. Und da hat nun einmal der Tod den unschlagbaren Vorteil, ein Ereignis zu sein, bei dem wir nicht, wie sonst üblich, zu spät kommen. Während wir ansonsten immer erst im Nachhinein feststellen können, was geschehen ist, wenn etwas geschehen ist, können wir uns im individuellen Todesfall schon im Vorfeld dieser Angelegenheit gewiss sein, wenn auch ohne den genauen Zeitpunkt zu kennen.

(Obwohl ich an dieser Stelle vorsichtig sein sollte: Selbstverständlich kann man zum Lebensende zu spät kommen, zumindest in seiner zeremoniellen Form. Josef Kelnberger hat in der Süddeutschen Zeitung pünktlich zum 1. November 2015 einen sehr schönen Artikel darüber veröffentlicht, wie sich die Formen des Beerdigens gegenwärtig verändern. Darin berichtet ein Bestattungsunternehmer: „Diese Woche erst hat er zwei Frauen geholfen, ihre Männer zu beerdigen. Zur Zeremonie auf dem Friedhof erschien die eine Frau eine Stunde zu spät. Sie habe den Bus verpasst, sagte sie. Die andere Frau erschien gar nicht. Sie sei 40 Jahre mit diesem Mann verheiratet gewesen, sagte sie, und jetzt habe sie dann mal abgeschlossen mit dem.“)

Relative Ewigkeit

Keine Sorge, ich stelle hier nun keine, allzu häufig ins Triviale abdriftende Überlegungen darüber an, wie sich das menschliche Sein zum Sterben ausgestaltet. Stattdessen könnte ein genauerer Blick auf die Historisierungen des eigenen Lebens gerade im Angesicht des Todes von Interesse sein – und könnte die Einrichtung des Friedhofs dafür ein interessanter Ort sein, nämlich ein Ort der Zeiten, der auch dann einen Besuch wert ist, wenn man dort eigentlich nichts verloren hat. Man kann dort zumindest lehrreiche Modelle für Verzeitungen und Historisierungen finden.

Lassen wir einmal all die einstudierten und sozial abverlangten Verhaltensweisen wie richtige Körperhaltung, angemessener Gesichtsausdruck und bestimmte formelhafte Wendungen beiseite, die von dieser Örtlichkeit eingefordert werden und die selbst von Ungeübten recht schnell zu erlernen sind, so muss einem bei etwas näherem Hinsehen bereits die eine oder andere Begrifflichkeit auffallen. Ein Ausdruck wie ‚Hinterbliebene‘ mag ja in einer Gesellschaft mit einem dominierenden Jenseitsglauben noch Sinn gemacht haben, wirkt aber in unserer diesseitsorientierten Welt reichlich seltsam. Sind denn diejenigen, die sich dort um das Grab herum versammeln, die Bedauernswerten, die sich noch nicht ihres Ablebens erfreuen können? Und müssten dann die Toten nicht konsequenterweise als ‚Vorverstrobene‘ bezeichnet werden?

Und was hat es mit der Praxis auf sich, neben den Namen auch noch die Lebensdaten von Dahingeschiedenen auf Grabsteinen zu vermerken. Für die Bewohner der Gräber kann das kaum gedacht sein. Wenn es aber den Überlebenden als Information dient, welche Botschaft sollen diese Datierungen vermitteln? Sieh mal, wie schnell es gehen oder wie lange es dauern kann, dieses Leben … Die hat zwei Weltkriege erleben müssen und der war in meinem Alter schon zehn Jahre tot …

Überhaupt diese Grabsteine und die Friedhofsanlagen: Man geht über diesen Gottesacker mit der impliziten Vorstellung, dass diejenigen, die dort liegen, in alle Ewigkeit dort liegen werden. Das stimmt aber nur ein einem recht übertragenen Sinn. Denn nicht nur geht das Leben nach dem Tod weiter, so dass natürlich auch die Leichname nicht sich selbst überlassen, sondern dem großen biologischen Verdauungsprozess erhalten bleiben, zudem hat auch die deutsche Bürokratie in Form von Friedhofsverordnungen dem Umstand Rechnung zu tragen, dass der Bedarf an Grabstellen nicht nachlässt. Auf den Friedhöfen herrscht tatsächlich ordentlich Betrieb; ein riesiger Verschiebebahnhof zwischen Lebenden, Tote und schon lang Toten. Die angeblich letzte Ruhestätte ist tatsächlich immer nur die vorletzte, bis ein Grab nämlich nach etwa 25 Jahren aufgelassen wird und Platz für den Nachwuchs machen muss. Die allzeit an diesem Ort gepflegte Rede von der Ewigkeit ist also durchaus zu relativieren. Und das wird über kurz oder lang sogar für die Familiengräber gelten, mit denen man sich einen dauerhaften Platz von ein paar Quadratmetern Größe zu sichern meint; auch für deren Ewigkeitsstatus würde ich nicht meine Hand ins Feuer legen wollen – schließlich ist die Ewigkeit ja doch ein recht langer Zeitraum.

Zeitkreuzungen

Aber gerade diese beständigen, wenn auch eher allmählichen Bewegungen auf dem Friedhof führen zu dem irritierenden Phänomen, dass dort zuweilen weit entfernte Zeitpunkt räumlich nahe zusammenrücken. Dort liegen dann Erna und Wilhelm, die höchstens noch einen Vorgeschmack des 20. Jahrhunderts erahnen konnten, neben Anne-Sophie und Kevin, die außer ihrer physischen möglicherweise auch noch eine virtuelle Grabstelle haben. Sie scheinen nichts miteinander zu tun zu haben und sind doch ganz nah beieinander.

Man kann auf dem Friedhof viel lernen. Man kann sehen, wie sich die Einstellungen zum Tod ändern. Man kann sich selbst von den vielen Gräbern nach dem Sinn des eigenen Lebens und den eigenen Strategien des Überlebens über den Tod hinaus befragen lassen (das Schreiben ist hier beispielsweise eine beliebte Variante). Man kann auch mit Wolfgang Herrndorf die berechtigte Frage stellen, wann endlich einmal mit den Lebenden so pietätvoll umgegangen wird wie mit Sterbenden oder Toten. [1] Und man kann sich auch nach der Zeit und den Zeiten befragen lassen, mit denen und in denen man lebt. Selbst wenn dabei keine ausgefeilte Zeitphilosophie herauskommen sollte (was auch weder zu erwarten noch unbedingt anzustreben wäre), so kann man sich doch von der gleichzeitigen Präsenz von Hinterbliebenen und Vorverstorbenen, von der Vermischung von Ewigkeitswünschen (oder gar Ewigkeitsdünkeln?) und Kurzeitterminierungen, von genauen Lebensdatierungen und deren offensichtlicher Sinnlosigkeit im Angesicht des Todes, vom stummen Gespräch zwischen Diesseitigen und Jenseitigen oder vom räumlichen Nebeneinander chronologisch divergenter Jahrhunderte zumindest soweit irritieren lassen, dass man einer simplen linearen Zeitvorstellung zu misstrauen beginnt.

Der Friedhof ist dann nicht mehr nur ein Ort des Gedenkens, sondern auch des Bedenkens der Zeit(en), die wir haben oder die wir möglicherweise haben wollen. Hier ist nicht nur die Trauer über die Toten zu Hause, sondern auch die Hoffnung anderer Zeitmodalisierungen, weil sich genau hier die sehr unterschiedlichen Verzeitungen begegnen, überkreuzen und gegenseitig durcheinanderbringen. Insofern sei mal wieder ein Besuch auf dem Friedhof angeraten, auch und gerade wenn dazu kein Anlass besteht. Es muss ja nicht der triste November sein. Im Frühjahr ist es dort auch recht schön.

 

Anmerkungen

[1] Wolfgang Herrndorf, Arbeit und Struktur, Berlin 2013, 255.

Wozu?Every story

Es ist eigentlich immer an der Zeit, das eigene Denken über Vergangenheit und Geschichte mal etwas durchzuschütteln und auf den grundsätzlichen Prüfstand zu stellen. Aber aktuell erscheint es noch ein weniger zeitiger. Nicht weil wir es mit einer grundsätzlichen Krise des Geschichtsverständnisses zu tun hätten – sondern ganz im Gegenteil, weil wir es mit ‚Geschichte‘ als einem viel zu großen Selbstverständnis zu tun haben. Können sich die Älteren noch an Diskussionen erinnern, die bis in die 1980er Jahre hinein immer mal wieder aufgeflammt sind und in denen regelmäßig die Frage aufgeworfen wurde: „Wozu Geschichte?“ Der Blick in die Vergangenheit galt tendenziell als konservativ, nostalgisch, weltabgewandt und sogar reaktionär, weil zum Beispiel die Sozialwissenschaften viel besser in der Lage zu sein schienen, mal so richtig die Welt zu erklären. Seit den 1990ern (grob geschätzt) muss man die Frage hingegen anders stellen: „Wozu so viel Geschichte?“ Denn Geschichte ist überall, im Fernsehen, in populären Magazinen, im Internet, im Tourismusyou name it.

Auch wenn mich der Umstand dieses nicht nur anhaltenden, sondern – soweit sich das quantifizieren lässt – sogar steigenden Interesses an der Beschäftigung mit der Vergangenheit aus rein professionellen Gründen erfreuen müsste, geht er doch mit diversen Problemen einher. Man kann diese Schwierigkeiten unter dem Stichwort einer Verflachung der Geschichte verhandeln oder mittels näherer Betrachtung gängiger historischer Floskeln genauer unter die Lupe nehmen (geschehen hier, hier, hier und hier). Das sind aber nur kleine Schnitte in das Gewebe der herrschenden Geschichtskultur, die durch zahlreiche weitere Operationsfelder vervielfältigt werden müssten.

Wohin aber soll das führen? In das kulturpessimistische Gejammer selbsternannter Spezialisten im Feld der historischen Forschung, dass sich so viele Amateure in ihren Gefilden herumtreiben? In die Klage über den Verfall historischer Normen und Werte, weil alles und jeder meint, sich mehr oder minder kompetent zur Vergangenheit äußern zu müssen? Wohl kaum. Denn wer wäre ich, irgendjemandem vorschreiben zu wollen, ob er/sie sich auf die eine oder andere Art und Weise mit Geschichte beschäftigen darf? Nein, es soll und kann nur um den Versuch gehen, die etablierten Formen historischen Verständnisses zu befragen – und ihnen mögliche Alternativen entgegenzusetzen.

Geschichte als Außen

Nun ließe sich zum Beispiel die Beschäftigung mit historischen Floskeln recht schnell und unproblematisch als wenig erhellend beiseiteschieben. Das Alltagswissen und die Alltagsüberzeugungen von Vergangenheit und Geschichte erscheinen für ein weitergehendes historisches Verständnis als irrelevant. Aber was heißt schon „weitergehendes historisches Verständnis“? Unterscheidet sich das Bild von „der Geschichte“, das sich in Floskeln niederschlägt, denn tatsächlich so grundsätzlich von demjenigen, das beispielsweise in den historischen Wissenschaften zirkuliert? Zumindest wird man kaum behaupten können, dass diese Floskeln keinerlei Bedeutung für herrschende Geschichtsbilder hätten. Hier werden tatsächlich sozial wirksame Vorstellungen davon konstituiert, was „Geschichte“ und „Vergangenheit“ sein könnten.

Wenn man historische Floskeln in diesem Sinn ernst nimmt und wenn man sich deren wesentliche Aussage vor Augen führt – wenn man also von der Vergangenheit eingeholt wird oder sie ruhen lassen will, wenn man Geschichte macht oder in die Geschichte eingeht, wenn man den Lauf oder die (Nicht-)Wiederholbarkeit von Geschichte beobachtet – dann zeigt sich in der Quersumme ein ganz wesentliches Charakteristikum derjenigen „Geschichte“, von der hier die Rede ist. „Geschichte“ ist immer etwas Äußeres, Eigenständiges, eine andere Dimension, die man beobachten oder zu der man Zugang erlangen kann – vielleicht sogar etwas Transzendentes. Und das ist natürlich höchst problematisch. Denn damit wird ja so getan, als hätte die historische Beschäftigung einen Gegenstand, der „irgendwo dort draußen“ liegt, als könnte man Zugang erhalten zur Vergangenheit als einer zeitlich zurückliegenden Dimension. Problematisch ist das, weil die historische Beschäftigung es nicht mit der Vergangenheit zu tun hat, sondern mit dem aus der Vergangenheit übriggebliebenem Material. Deswegen kann man sogar behaupten, dass „Geschichte“ nicht in der Zeit stattfindet, sondern im Raum, weil sie nicht auf die Vergangenheit als einer abwesenden Zeit rekurrieren kann, sondern nur auf das historische Material, wie es in bestimmten Räumen eingelagert ist, in Archiven, Bibliotheken, Museen, Bunkern, Kellern, Dachkammern … Und wenn das tatsächlich so ist, dann brauchen wir auch neue Floskeln, die dieses Verständnis von Geschichte zum Ausdruck bringen

Neue Floskeln braucht das Land

Ein Stück Geschichte in die Gegenwart hineinsetzen

Wenn wir uns schon nicht in die Vergangenheit hineinversetzen können, dann sollten wir doch wenigstens versuchen, das angemessen zu beschreiben, was wir ohnehin die ganze Zeit tun – nämlich Geschichte als ein Stück erzählter Vergangenheit in unsere Gegenwart integrieren. Ist vor allem deswegen vergnüglich und erfolgreich, weil man immer Neues in dem Alten entdeckt.

Vergangenheiten sehen uns an!

Dass sich ein bestimmtes Hier und Jetzt in den Mittelpunkt der Welt und ihrer Weltgeschichte setzt, ist für Gesellschaften, die sich selbst als „modern“ zu bezeichnen pflegen, ein verhältnismäßig normaler Vorgang (seit das Jenseits als ein späteres und ewiges Hier und Jetzt an Überzeugungskraft eingebüßt hat). Insofern ist es durchaus folgerichtig (und auch nicht gänzlich falsch), wenn dieses Hier und Jetzt von sich behauptet, in die Vergangenheit blicken zu wollen. Zugleich ist ein solcher Zugang recht vereinseitigend. Denn auch die Vergangenheiten haben durch ihre Weltsichten und ihre Formen der Überlieferung schon ganz erheblich dasjenige geprägt, was wir als Geschichte begreifen können. Sie sehen uns also mindestens ebenso sehr an wie wir sie.

Wir machen zukünftige Vergangenheit!

In der Tat, das tun wir, und zwar jeden Tag. Es könnte durchaus sein, dass diese zukünftige Vergangenheit von etwas längerer Haltbarkeit ist, möglicherweise sogar für Jahrzehnte und Jahrhunderte Bedeutung erlangt. Aber recht nüchtern muss man wohl feststellen, dass vieles von dem, was heute noch Geschichte machen will, morgen schon wieder vergessen ist. (Das ist der Effekt, wenn man in alten Zeitschriften oder Zeitungen blättert und einstmals bedeutsame Ereignisse aus der inzwischen eingetretenen historischen Amnesie wieder auftauchen.) Man kann also gut und gerne versuchen, Geschichte zu machen, ob das aber tatsächlich gelingt, liegt nicht allein in der Hand der Gegenwärtigen. Bis dahin bleiben wir recht gegenwärtig darum bemüht, heute schon festlegen zu wollen, was morgen am Gestern interessiert. Bleibt abzuwarten, was die Zukunft dazu sagt.

Wo die Zeiten nicht wieder überall hinlaufen?!

Klingt – wie vieles andere hier – gewöhnungsbedürftig, sollte aber dabei helfen, sich vom eindimensionalen Zeitstrahl und seiner eindeutigen Richtung zu befreien. Denn „die Zeit“ gibt es nicht (höchstens als Wochenzeitung), und eine eindeutige Richtung hat sie auch nicht. Stattdessen sollte man sich öfter wundern, wo denn die vielen Zeiten nicht überall hinlaufen.

Lasst uns Geschichte wiederholen!

Wohlgemerkt: Geschichte, nicht Vergangenheit. Letztere steht als Vergangenes der Repetition nicht zur Verfügung, aber Ersteres wiederholen wir beständig. Wenn man Geschichte begreifen darf als Beschreibung einer Vergangenheit durch eine Gegenwart, und diese Beschreibung im Sinne einer Verknüpfung zwischen diesen unterschiedlichen Zeiten funktioniert, dann muss diese Relation beständig erneuert werden. Wahrscheinlich bedarf es in diesem Fall gar keiner eigenen Floskel, denn die Praxis der Geschichtsschreibung ist nichts anderes als die immer wieder notwendige Geschichtswiederholung.

Eine Sammlung historischer Floskeln ließe sich – wie es einem Lexikon gebührt – entweder alphabetisch ordnen oder aber nach TunnelThemengruppen sortieren. Wählte man die letztere Variante, könnte man sich die Frage stellen, mit welchen Emotionen das Vergangene jeweils belegt wird. Ist es der Sehnsuchtsort des goldenen Zeitalters, die stolze Ahnengalerie vergangener Großtaten, das Schandmal auf der nicht mehr gar so weißen Weste der eigenen Identität oder gar das mit Angst und Schrecken besetzte Gestern? Es ist wohl nicht nur ein Spezifikum der deutschen Sprache, dass sich in diesem Zusammenhang einige sprachliche Formeln finden, die ein eher düsteres Bild von der Vergangenheit zeichnen.Drei Beispiele aus diesem Segment sollen im Folgenden Erwähnung finden. Weitere, weder alphabetisch noch sonstwie sortierte Einträge aus dem Lexikon historischer Floskeln finden sich hier, hier und hier.

Von der Vergangenheit eingeholt werden

Der Gemeinplatz, man könnte von der Vergangenheit eingeholt werden, ließe sich wahlweise auch ersetzen durch die Rede von den „Schatten der Vergangenheit“, die einen heimsuchen. Kriminalgeschichten leben nicht selten davon, dass irgendeine olle Kamelle aus dem Keller des Gewesenen hervorgeholt wird, um dem gegenwärtig so glücklich und erfolgreich Lebenden, aber in der Vergangenheit irgendwie bösartig Gewesenen mal zu zeigen, was eine historische Harke ist. Dahinter steckt wohl die Hoffnung, dass es doch so etwas wie historische Gerechtigkeit geben könnte.

Aber keine Sorge, weder gibt es historische Gerechtigkeit noch werden wir von der Vergangenheit eingeholt. Ob man will oder nicht, all das findet gegenwärtig statt (was auch immer da stattfindet). Man muss nicht warten, bis die mehr oder weniger untoten Sünden eines früheren Lebens wieder aus den Gräbern steigen, um die noch Lebenden vor Gericht zu ziehen. Man muss höchstens warten, bis eine Gegenwart bereit ist, sich auf andere Art und Weise mit einer Vergangenheit zu beschäftigen oder überhaupt erst eine Vergangenheit zu entdecken, von der sie bis dato noch gar nicht wusste (oder nicht wissen wollte), dass es sie gibt. Die Vergangenheit holt uns dabei nicht ein, denn die Vergangenheit selbst tut überhaupt nichts. Wir Gegenwärtigen holen uns höchstens eine andere Vergangenheit heran – und das kann für manche Beteiligte allemal unangenehm werden.

Die Vergangenheit begraben

Von der Vergangenheit begraben zu werden, wäre dann wohl eher das Gegenteil zur Vergangenheit, die einen einholt: Ein Gestern, das einfach nicht vergehen will und das man endlich loszuwerden wünscht. Sollte ja, nach dem oben Gesagten, besser funktionieren. Denn wenn man sich eine Vergangenheit heranholen kann, dann ließe sie sich möglicherweise auch wieder abstoßen – oder eben gleich begraben. Aber gar so einfach ist es nicht, weder mit dem Abstoßen noch mit dem Begraben. Hier offenbart sich vielmehr der reziproke Charakter temporaler Relationen, oder zu deutsch: Die Zeitmuster, in denen wir leben, werden nicht ausschließlich und willkürlich von der Gegenwart bestimmt, sondern sind ebenso durch Prägungen und Voraussetzungen besetzt, die schon in der Vergangenheit getroffen wurden. Das Spiel zwischen den Zeiten findet statt von allen Seiten. Das wird besonders auffällig beim Verlust von Vergangenheiten. Überlieferungen, die zerstört, nicht weitergetragen, vergessen oder – weit häufiger – erst gar nicht zeitresistent festgehalten wurden, können entweder ihren Status als Vergangenheit verlieren oder für eine Gegenwart nie zur Vergangenheit geworden sein. Sie existieren für eine Gegenwart schlicht nicht, können daher auch nicht begraben werden und schon gar nicht irgendetwas oder irgendjemand einholen.

Aber dasjenige Wenige, das es in den Überlieferungsstrom geschafft hat, also die Schneeflocke auf der Spitze des Eisbergs, aus der wir dann unsere ‚Geschichte‘ zu fabrizieren pflegen, lässt sich kaum zu Grabe tragen. Sie mag in einen Dämmerzustand verfallen, phasenweise unbedeutend werden, unbeachtet bleiben oder andere Formen des Aufmerksamkeitsdefizits erleiden. Aber verschwinden wird sie nicht. Von sich aus können ad acta gelegte Vergangenheiten zwar nicht aktiv werden, aber man hüte sich vor den Bestrebungen einer Gegenwart, neue Zeitbeziehungen zu etablieren – denn man weiß nie, was sie in den Kellern finden und sich eigensinnig aneignen wird.

Ende der Geschichte

Es ist wahr, Geschichten können enden. Aber die Geschichte kann es nicht. Verwendet man beide Substantive in der Singularform – das Ende der Geschichte –, dann haben wir es tatsächlich mit einer blanken Unsinnsaussage zu tun. Nicht nur scheint mir immer weniger klar zu sein, was die Gesamtheit derjenigen Vorgänge sein soll, die wir mit dem Wort ‚Geschichte‘ zu belegen pflegen, auch weiß ich nicht, wie man Veränderung stoppen will. Ein Nicht-Wandel ist – nach allem was wir über den Menschen und die ihn umgebende Welt wissen – nicht möglich. Wenn man daher vom ‚Ende der Geschichte‘ spricht, ist das eher Ausweis der Arroganz oder der Fantasielosigkeit der Jetztlebenden, die sich nicht vorstellen wollen/können, dass nach ihnen tatsächlich noch etwas grundsätzlich anderes kommen mag. Dabei dürfte das Gegenteil nur mit erheblichen Schwierigkeiten zu belegen sein: Wieso sollte ausgerechnet der aktuelle Zustand festgefroren werden und durch nichts mehr ersetzt werden? Transformationen zu blockieren erfordert einen deutlich höheren Energieaufwand als sie auszuführen.

Zugleich kann man immer wieder feststellen, dass bestimmte Phänomene verschwinden, Entwicklungen aufhören, Traditionen abbrechen und aus ‚der Geschichte‘ verschwinden. Wenn das aber geschieht, dann handelt es sich in nicht wenigen Fällen darum, dass ein historischer Vorgang seinen Aggregatzustand verändert, also nicht vollständig verschwindet, sondern so gravierend transformiert wird, dass die Geschichte anders erzählt werden muss. Wenn also Geschichten enden – oder wir sogar ‚die Geschichte‘ enden lassen wollen –, dann weniger, weil irgendeine übergeordnete transzendente Einrichtung den entsprechenden Faden durchschneidet, sondern weil wir die Erzählung dieser Geschichte enden lassen.

Ein ManifestUhren

Es scheint die Zeit der Manifeste zu sein. Ähnlich wie im frühen 20. Jahrhundert, als Marinetti 1909 das Manifest des Futurismus veröffentlichte oder André Breton ab 1924 gleich mit mehreren Manifesten den Surrealismus zu installieren versuchte [1], bemüht sich auch das frühe 21. Jahrhundert darum, Orientierung in manifester Form zu gewinnen. Was müssen das für Zeiten sein, in denen solche Texte gedeihen? Phasen, die bestimmt sind durch die Verunsicherung einst unhinterfragter Parameter, durch den Verlust richtungsweisender Wegmarken, durch die Suche nach Alternativen zum Bestehenden. Es müssen vielleicht gar nicht politisch oder wirtschaftlich krisenhafte Zeiten sein, eher scheinen die systemischen Zusammenhänge, in denen man existiert, gerade deswegen so irritierend und verunsichernd, weil sich keine echte Alternative aufdrängt – und weil man zugleich weiß (oder zumindest ahnt), dass es so wie bisher nicht weitergehen kann.

Vielleicht ist das aber auch völliger Unsinn. Womöglich ist jede Zeit eine gute Zeit für Manifeste. Wobei es natürlich eine Sache ist, ein Manifest aufzusetzen, und eine ganz andere, damit auch Gehör zu finden. In der allerjüngsten Vergangenheit konnte man gleich über mehrere Vertreter dieser Textgattung stolpern, die in den Feuilletons zumindest kurzzeitig für Aufmerksamkeit sorgten. Wie weit ihre Halbwertzeit reicht, wird sich erst noch weisen müssen. So erschien vor ein paar Jahren erschien in Frankreich „Der kommende Aufstand“ des „Unsichtbaren Komitees“, worin unter kommunistischen Vorzeichen – nun ja, der kommende Aufstand angekündigt wurde. [2] Ganz anders geartet ist das „Manifest des neuen Realismus“ von Maurizio Ferraris, als, offen gestanden, wenig überzeugender Versuch, den „Wert der Wirklichkeit“ gegen Postmoderne und Konstruktivismus zu retten, um sich damit nicht nur in befremdliche Selbstwidersprüche zu verheddern, sondern mit dieser Oppositionshaltung selbst schon wieder ‚postmodern‘ zu wirken. [3] Und kaum hat man einmal fünf Minuten nicht hingesehen, erscheint auch schon wieder ein neues Manifest: „The History Manifesto“ wurde veröffentlicht, während ich an diesem Beitrag schrieb.

Konvivialismus

Ein weiteres, ebenfalls sehr frisches Beispiel ist „Das konvivialistische Manifest“ (als PDF kostenfrei herunterzuladen). Auf eine vornehmlich französische Initiative zurückgehend, stellen in diesem Manifest etwa 40 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die teils sehr unterschiedlichen Zusammenhängen entstammen, Forderungen auf, die sich in zwei Richtungen hin zuspitzen lassen. Erstens geht es um die Überwindung der ökonomischen Religion, um ein Hintersichlassen des nackten Wachstumswillens, der seinen Endzweck nur noch in sich selbst hat, und um die Ersetzung eines Eigennutzdenkens durch eine stärkere Gemeinnutzorientierung. Zweitens geht es um das Aufzeigen oder vielmehr Zusammenführen alternativer Modelle zur Organisation von Wirtschaft, Gesellschaft, Politik und Kultur, die sich nicht mehr auf Wachstum und Eigennutz kaprizieren, sondern – wie der Name schon sagt – das Zusammenleben mit Menschen, Tieren, Pflanzen und Gegenständen in den Mittelpunkt rücken.

Mit dem konvivialistischen Manifest liegt ein weiterer Beitrag vor, der versucht deutlich zu machen, dass und wie Alternativen zu herrschenden Formen des Wirtschaftens und Lebens aussehen könnten. Sympathisch daran ist nicht nur die undogmatische Herangehensweise, sondern auch der konkrete Bezug zu bereits bestehenden Projekten in diese Richtung sowie nicht zuletzt die Einsicht, dass die Grundlage eines solchen Konvivialismus ein Umdenken sein muss, das nichts weniger wäre als eine kulturelle Revolution. Diese Revolution kann allerdings nicht über Nacht vonstattengehen kann, sondern wird Zeit in Anspruch nehmen – sehr viel Zeit, einfach weil sie ein grundsätzliches Umstellen kollektiver Handlungsmaximen und Denkschemata erfordert (und um das zu erreichen, wird es wahrscheinlich noch vieler Manifeste und Denkanstöße bedürfen). Das mag vielleicht nicht alles ganz neu sein (was, wenn man den Konvivialismus ernst nimmt, auch gar nicht sein muss – denn ist nicht auch der beständige Ruf nach Neuem in den Wissenschaften ein Ausdruck des Wachstumsdenkens?), aber es ist konzise auf den Punkt gebracht.

Kontemporalismus

Die Feststellung dürfte nicht allzu gewagt sein, dass in diesen Prozess des Umdenkens auch der Faktor Zeit mit einbezogen werden muss. Das scheint mir in zweierlei Hinsicht bedeutsam zu sein. Erstens findet das Miteinanderleben nicht nur unter Anwesenden statt, nicht nur gemeinsam mit Lebewesen und Gegenständen, mit denen wir unsere Gegenwart teilen, sondern ebenso mit den zeitlich Abwesenden. Mit Blick auf die Zukunft ist das unmittelbar einsichtig, denn gerade aus Sorge um das Leben auf (und mit) diesem Planeten in den kommenden Jahrzehnten machen sich ja solche Überlegungen wie der Konvivialismus breit, wächst seit geraumer Zeit das Bewusstsein, dass – wie es immer mit einem sonntagspredigenden Unterton heißt – wir die Erde von unseren Kindern nur geborgt haben. Aber es trifft eben auch mit Blick auf die Vergangenheit zu. Das äußert sich nicht nur in ganz praktischen Aspekten wie dem Recyceln, Reparieren, Bewahren und Weiterverwenden von Dingen, die nicht allein schon deswegen weggeworfen werden müssen, weil sie ein gewisses Alter haben. Sondern das sollte sich auch äußern in einer Art und Weise, die Komplexität von Vergangenheiten ernst zu nehmen, diese Vergangenheiten nicht zu schlichten und unvollkommenen Vorläuferstadien der eigenen Gegenwart zu reduzieren, um stattdessen all die Möglichkeiten zu entdecken, die in diesen Vergangenheiten stecken und die für uns heute noch von Bedeutung sein können.  Es geht also darum, die Geschichte immer auch auf Wirklichkeiten hin zu befragen, die noch nicht realisiert worden sind oder die einst realisiert wurden, aber zwischenzeitlich dem Vergessen anheimfielen (ohne deswegen ausgelöscht worden zu sein). Ein sehr offensichtliches Beispiel ist das Verhältnis von Gemeinnutz und Eigennutz, das bis in das 17. und 18. Jahrhundert hinein immer wieder intensiv debattiert wurde, bevor der Eigennutz als diskursiver Sieger hervorging und der Gemeinnutz als ‚vormodern‘ und ‚traditionalistisch‘ in die Asservatenkammer verbannt werden konnte. [4]

Wohlgemerkt: In dieser Weise auf die Kontemporalität als einem Miteinander der Zeiten hinzuweisen, soll nicht auf die Allerweltsweisheit hinauslaufen, es sei alles schon einmal dagewesen. Es gilt vielmehr deutlich zu machen, dass auch die nicht verfügbaren Zeiten der Vergangenheit und Zukunft in einer Gegenwart zusammenfallen und zur Gestaltung des Hier und Jetzt von elementarer Bedeutung sind.

Diese gegenwärtige Anwesenheit abwesender Zeiten scheint mir in einer zweiten, eher theoretischen Hinsicht noch bedeutsamer zu sein, weil sie unmittelbar das nötige Umdenken und die angesprochene kulturelle Revolution betrifft. Denn wenn man ernsthaft das Wachstumsdenken überwinden will, dann muss man unweigerlich auch das damit verbundene Zeitmodell verabschieden. Das eine ist ohne das andere nicht zu haben. Schließlich ist es die immer noch herrschende Vorstellung vom Zeitstrahl, von einer homogenen und linearen Zeit, die üblicherweise als Grundlage dafür dient, innerhalb dieser Zeit eine entsprechende Entwicklung anzunehmen. Dieser Entwicklung wird zumindest implizit ein – wenn auch nebulöses – Ziel unterstellt, das wahlweise Dekadenz und Niedergang oder eben Fortschritt und Wachstum heißen kann. Erst wenn wir lernen, Zeit anders zu denken, nämlich als Pluralität unterschiedlicher Verzeitungen, die parallel zueinander existieren, sowie als Ergebnis von praktischen Differenzierungen zwischen Vergangenheit und Zukunft, die in einer Gegenwart getroffen werden, dann wird auch ein Abschied von der Wachstumsreligion möglich, der nicht mehr als Verlust erscheint, sondern als veränderte temporale Organisation. Denn wir leben nicht in der Zeit, wir leben mit den Zeiten.

 

[1] André Breton: Manifeste des Surrealismus, Reinbek bei Hamburg 1986.

[2] Unsichtbares Komitee: Der kommende Aufstand, Hamburg 2010.

[3] Maurizio Ferraris: Manifest des neuen Realismus, Frankfurt a.M. 2014.

[4] Winfried Schulze: Vom Gemeinnutz zum Eigennutz. Über den Normenwandel in der ständischen Gesellschaft der Frühen Neuzeit, in: Historische Zeitschrift 243 (1986) 591-626.

Nach der ersten und der zweiten, hier nun die dritte Lieferung historischer Floskeln und Allgemeinplätze.

Ein Jahrhundertereignis!

jahrhundertereignisEs ist eigentlich zu offensichtlich, als dass man besonders viel Zeit dafür verschwenden müsste: Die beständige Ausrufung von Jahrhundertereignissen hat
schon seit geraumer Zeit solch inflationäre Ausmaße angenommen, dass sie sich selbst ad absurdum führt. So viele Jahrhunderte bleiben unserem Planeten gar nicht mehr, dass sie den entsprechenden einschneidenden Ereignissen noch zu entsprechen vermögen. Wenn es sich nicht um eine wirklich dröge Sisyphusarbeit handeln würde, könnte sich eine Auszählung all dieser proklamierten Jahrhundertereignisse einmal lohnen. Beinahe täglich findet irgendwo eines statt.

Eine Kultur geht recht verschwenderisch mit ihrer historischen Zeit um, wenn sie überall solche säkularen Geschehnisse ausmacht. Eine simple Google-Abfrage bringt unter anderem folgende Ergebnisse zutage: 50 Bewohner von Eichsfeld erlebten den Guss einer Glocke in Gescher als Jahrhundertereignis, der Bürgermeister von Waldstetten erklärte den Empfang der frisch gebackenen Skisprung-Olympiasiegerin Carina Vogt zum Jahrhundertereignis (der eigentlich nur noch durch einen Papst-Besuch zu toppen sei), in Schwäbisch Gmünd wurde die Einweihung des Einhorn-Tunnels und damit die Freigabe der teuersten Ortsumgehung Deutschlands als ein Jahrhundertereignis gefeiert und im März 2013 erwies sich das Einströmen grönländischer Polarluft nach Ostdeutschland mit entsprechenden Temperatur-Minusrekorden als meteorologisches Jahrhundertereignis. So weit, so bekannt. Diese Liste ließe sich endlos fortsetzen.

Dass solche Titulierungen nicht die Luxzahl wert sind, mit der sie einem vom Bildschirm entgegenflimmern, muss kaum erwähnt werden. Warum aber diese Sehnsucht, aus Hochwassern, Fußballspielen, Kirchenrenovierungen oder Landesgartenschauen immer gleich einen unumgänglichen Eintrag in die Geschichtsbücher zu machen? Abgesehen davon, dass es sich um einen unübersehbaren Mangel an sprachlicher Differenzierungsfähigkeit handelt (Weltberühmt in Radolfzell!), ist diese Suche nach historischen Superlativen, die sich kaum noch steigern lässt (es sei denn durch Ereignisse, die einem Jahrtausend oder gleich der ganzen Menschheit zur Denkwürdigkeit aufgegeben wären) ein typischer Ausfluss modernistischen und fortschrittsgeschichtlichen Denkens. Vielleicht zeigt sich nirgends deutlicher als gerade bei diesen vermeintlich nebensächlichen, nicht wirklich ernst zu nehmenden historischen Übertreibungen, wie sehr ein überhitztes Geschichtsdenken, das nur noch in olympischen Kategorien zu funktionieren vermag (höher! schneller! weiter!), inzwischen ins Leere läuft.

Geschichte wiederholt sich (nicht)

Kniffliger Fall eines historischen Gemeinplatzes, zumal er in zwei entgegengesetzten Varianten aufzutreten pflegt. Natürlich wiederholt sich Geschichte nicht – so möchte man voller Überzeugung ausrufen –, schließlich sehen wir uns einem linearen Zeitmodell verpflichtet, bei dem die Zeit aus dem Gestern kommt, um ohne Wenn und Aber in das Morgen fortzuschreiten. Mit einem solchen Verzicht auf die zyklische Wiederkehr des Gewesenen kann sich Geschichte nicht wiederholen. Und wenn selbst der zweite Hauptsatz der Thermodynamik nicht zu überzeugen vermag, so kann einen doch die Alltagserfahrung lehren, dass man das Gestern nicht zurückholen kann. Immer wieder ernüchterndes Beispiel: Klassentreffen.

Bevor wir die Wiederholung aber allzu schnell zu den Akten legen, lohnt sich unter Umständen ein genauerer Blick auf das Vokabular. Was war nochmal mit „Geschichte“ und was mit „Wiederholung“ gemeint? Dasjenige, was sich hier nicht wiederholen soll, scheint doch viel eher die Vergangenheit als ein Zeitraum zu sein, in dem wir all diejenigen Geschehnisse unterzubringen pflegen, die sich nicht mehr rückgängig machen lassen (eben das wäre der zweite Hauptsatz der Thermodynamik auf das Leben von Menschen und Kulturen angewandt). Geschichte ist hingegen bekanntermaßen die Erzählung, die wir uns selbst von dieser Vergangenheit erzählen. Und diese Geschichte lässt sich nicht nur wiederholen, es ist uns sogar ein kulturhistorisch gewachsenes Bedürfnis, diese Erzählung zu repetieren und zu variieren, immer wieder neu aufzufrischen und vielleicht sogar neue Seiten an ihr zu entdecken.

Was uns unmittelbar zur „Wiederholung“ führt. Nicht nur, dass die Wiederholung als Kulturtechnik ganz ungerechtfertigter Weise ein Schattendasein führt, weil sie mit unserem neuheitsversessenen Fortschritts- und Wachstumsdenken so gar nicht in Einklang zu bringen scheint (siehe oben: Jahrhundertereignisse!), sie wird zudem auch noch missverstanden, wenn man damit die Wiederkehr des identisch Gleichen zu bezeichnen meint. Aber die Wiederholung ist keine Kopie. Sie ist tatsächlich eine Wieder-Holung, also der Versuch, etwas erneut hervorzukramen, mit dem man sich schon einmal beschäftigt hat. Die Zeit, die zwischen einer ersten und einer späteren Auseinandersetzung mit einem bestimmten Gegenstand verstrichen ist, setzt aber bereits eine Differenz, die dafür sorgt, dass Wiederholung nicht mit Identität zu verwechseln ist. Schließlich haben sich beide Seiten in der Zwischenzeit gewandelt, der betrachtete Gegenstand sowie das betrachtende Subjekt. Und auch die erneute Beschäftigung wird eine Veränderung dieser Beziehung nach sich ziehen. Wiederholungen sind für die Konstitution unserer Kultur wesentlich bedeutsamer, als wir dies gemeinhin zuzugeben bereit sind.

Vielleicht wäre es daher Zeit für eine neue Floskel: Vergangenheit kann sich nicht wiederholen – Geschichte muss man wiederholen.

Die Vergangenheit ruhen lassen

Wenn die Vergangenheit schon der Container ist, in dem wir all die ehemaligen Aktualitäten unterbringen können, die sich nicht mehr rückgängig machen lassen (all die zerbrochenen Gläser, die sich nicht mehr zusammensetzen, die Jugendzeiten, die sich nicht noch einmal durchleben, die Ereignisse, die sich nicht mehr revidieren lassen), dann sollte sie doch auch der Ort sein, um all das loszuwerden, was uns bedrücken könnte. Vergessen wir also die Niederlagen, Peinlichkeiten, Beschämungen und Verletzungen, die wir ausgeteilt und empfangen haben, und verbrennen wir sie gemeinsam mit den Kalendern vom letzten Jahr.

Aber wenn das mit der Friedhofsruhe der Vergangenheit so einfach wäre, müsste man sie wohl kaum gesondert beschwören. Man darf eher den Verdacht haben, dass der Wunsch nach einer Vergangenheit, die abgeschlossen und vergessen sein möge, mit der Versicherung einhergeht, nicht erfüllt zu werden. Denn auch hier lehrt uns die Alltagserfahrung, dass man Gewesenes nicht einfach so abschütteln kann, dass die Geschichten uns nicht nur verfolgen, sondern zuweilen unwillentlich überfallen. Das Verlangen, die Vergangenheit ruhen zu lassen, wird also nicht selten dadurch konterkariert, dass die Vergangenheit uns nicht in Ruhe lässt.

Daraus lässt sich vielleicht weniger lernen, dass die Vergangenheit ein eigenständiges Leben unabhängig von unserem Wollen und Wirken führt und gewissermaßen autonom entscheiden könnte, wie und wo und wann sie uns auf die Pelle rückt. Eher könnte sich damit die Einsicht verbinden, dass der Mensch ein polychrones Wesen ist, das zwar in einem Hier und Jetzt existiert, dabei aber immer in der Lage ist, Relationen der unterschiedlichsten Art zu bereits Gewesenem und noch Kommendem aufzubauen. Und es sind diese Relationen, die sich nicht bis ins letzte kontrollieren lassen. Deswegen kann uns mitunter eine Vergangenheit nicht in Ruhe lassen, die schon längst (oder eben gerade nicht) erledigt zu sein scheint. Und deswegen kann uns auch eine Zukunft Angst einjagen (oder Hoffnung machen oder andere Gefühle auslösen), die uns noch gar nicht zur Verfügung steht.

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