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Friedhof

Blätterleichen

Der November ist eigentlich ein angemessener Monat, um sich einmal den letzten Dingen zuzuwenden. Als Todesmonat mit Allerheiligen und Totensonntag und Volkstrauertag und Halloween und herabfallenden Blätterleichen, die milliardenfach den Boden bedecken und nur noch deprimierende Baumskelette stehen lassen, zwingt er gerade in seiner neblig-grauen, die Sicht bis auf wenige Meter einschränkenden Erscheinungsform dazu, die Nähe des Todes ernst zu nehmen. Wann, wenn nicht jetzt, lohnt sich ein Besuch auf dem Friedhof – selbst wenn man meint, dort gar nichts verloren zu haben?

Sicherlich gibt es das eine oder andere Argument, das sich anführen ließe, um von einem solchen Gang eher abzusehen. Möglicherwiese liegen dort gar keine Verwandten oder Bekannten, die man besuchen könnte. Oder sie liegen zwar auf einem Friedhof, aber in größerer Entfernung, so dass die Ruhestätte, die in halbwegs erreichbarer Nähe ist, keinen Besuchsanlass bietet. Was aber will man auf einem Friedhof, auf dem sich weder Anverwandte noch Berühmtheiten befinden, wenn nicht einem allgemeinen Gefühl der Morbidität frönen? Und ist es nicht überhaupt seltsam, von einem ‚Besuch‘ zu sprechen, wenn es um den Gang auf den Friedhof geht? ‚Besuchen‘ wir nicht möglicherweise uns selbst und unsere eigene Sterblichkeit, die mit jeder Feststellung der Lebensdaten auf einem Grabstein von neuem an unser Hinterstübchen klopft? Und ist der Friedhof nicht der älteren Seniorenbevölkerung vorbehalten, die dort Menschen ihre Reverenz erweisen, die möglicherweise jünger, aber auf jeden Fall toter sind als sie selbst?

Historisierungen des Lebens und des Sterbens

Historisierungen aller Art, also die Einordnungen von Kollektiven in einen größeren zeitlichen Sinnzusammenhang, haben ihren Grund sicherlich nicht ausschließlich, aber ganz wesentlich in der Abstrahierung individueller Lebenserfahrungen in Richtung größerer Zusammenhänge. Deswegen lässt sich füglich über die Geburt, das Wachstum, das Alter oder den Tod von Staaten, Zivilisationen, Imperien und anderen kulturellen Phänomenen sprechen. Solche anthropologisierenden Deutungen sind hinreichend etabliert, seit es ein Nachdenken über geschichliche Zusammenhänge gibt. Es scheint daher nicht allzu weit hergeholt, auch den umgekehrten Weg einzuschlagen und nach den alltäglichen und vermeintlich so selbstverständlichen Historisierungsformen zu fragen, mit denen wir nicht nur unseren Lebensalltag gestalten, sondern auch unser Leben alltäglich gestalten. Und da hat nun einmal der Tod den unschlagbaren Vorteil, ein Ereignis zu sein, bei dem wir nicht, wie sonst üblich, zu spät kommen. Während wir ansonsten immer erst im Nachhinein feststellen können, was geschehen ist, wenn etwas geschehen ist, können wir uns im individuellen Todesfall schon im Vorfeld dieser Angelegenheit gewiss sein, wenn auch ohne den genauen Zeitpunkt zu kennen.

(Obwohl ich an dieser Stelle vorsichtig sein sollte: Selbstverständlich kann man zum Lebensende zu spät kommen, zumindest in seiner zeremoniellen Form. Josef Kelnberger hat in der Süddeutschen Zeitung pünktlich zum 1. November 2015 einen sehr schönen Artikel darüber veröffentlicht, wie sich die Formen des Beerdigens gegenwärtig verändern. Darin berichtet ein Bestattungsunternehmer: „Diese Woche erst hat er zwei Frauen geholfen, ihre Männer zu beerdigen. Zur Zeremonie auf dem Friedhof erschien die eine Frau eine Stunde zu spät. Sie habe den Bus verpasst, sagte sie. Die andere Frau erschien gar nicht. Sie sei 40 Jahre mit diesem Mann verheiratet gewesen, sagte sie, und jetzt habe sie dann mal abgeschlossen mit dem.“)

Relative Ewigkeit

Keine Sorge, ich stelle hier nun keine, allzu häufig ins Triviale abdriftende Überlegungen darüber an, wie sich das menschliche Sein zum Sterben ausgestaltet. Stattdessen könnte ein genauerer Blick auf die Historisierungen des eigenen Lebens gerade im Angesicht des Todes von Interesse sein – und könnte die Einrichtung des Friedhofs dafür ein interessanter Ort sein, nämlich ein Ort der Zeiten, der auch dann einen Besuch wert ist, wenn man dort eigentlich nichts verloren hat. Man kann dort zumindest lehrreiche Modelle für Verzeitungen und Historisierungen finden.

Lassen wir einmal all die einstudierten und sozial abverlangten Verhaltensweisen wie richtige Körperhaltung, angemessener Gesichtsausdruck und bestimmte formelhafte Wendungen beiseite, die von dieser Örtlichkeit eingefordert werden und die selbst von Ungeübten recht schnell zu erlernen sind, so muss einem bei etwas näherem Hinsehen bereits die eine oder andere Begrifflichkeit auffallen. Ein Ausdruck wie ‚Hinterbliebene‘ mag ja in einer Gesellschaft mit einem dominierenden Jenseitsglauben noch Sinn gemacht haben, wirkt aber in unserer diesseitsorientierten Welt reichlich seltsam. Sind denn diejenigen, die sich dort um das Grab herum versammeln, die Bedauernswerten, die sich noch nicht ihres Ablebens erfreuen können? Und müssten dann die Toten nicht konsequenterweise als ‚Vorverstrobene‘ bezeichnet werden?

Und was hat es mit der Praxis auf sich, neben den Namen auch noch die Lebensdaten von Dahingeschiedenen auf Grabsteinen zu vermerken. Für die Bewohner der Gräber kann das kaum gedacht sein. Wenn es aber den Überlebenden als Information dient, welche Botschaft sollen diese Datierungen vermitteln? Sieh mal, wie schnell es gehen oder wie lange es dauern kann, dieses Leben … Die hat zwei Weltkriege erleben müssen und der war in meinem Alter schon zehn Jahre tot …

Überhaupt diese Grabsteine und die Friedhofsanlagen: Man geht über diesen Gottesacker mit der impliziten Vorstellung, dass diejenigen, die dort liegen, in alle Ewigkeit dort liegen werden. Das stimmt aber nur ein einem recht übertragenen Sinn. Denn nicht nur geht das Leben nach dem Tod weiter, so dass natürlich auch die Leichname nicht sich selbst überlassen, sondern dem großen biologischen Verdauungsprozess erhalten bleiben, zudem hat auch die deutsche Bürokratie in Form von Friedhofsverordnungen dem Umstand Rechnung zu tragen, dass der Bedarf an Grabstellen nicht nachlässt. Auf den Friedhöfen herrscht tatsächlich ordentlich Betrieb; ein riesiger Verschiebebahnhof zwischen Lebenden, Tote und schon lang Toten. Die angeblich letzte Ruhestätte ist tatsächlich immer nur die vorletzte, bis ein Grab nämlich nach etwa 25 Jahren aufgelassen wird und Platz für den Nachwuchs machen muss. Die allzeit an diesem Ort gepflegte Rede von der Ewigkeit ist also durchaus zu relativieren. Und das wird über kurz oder lang sogar für die Familiengräber gelten, mit denen man sich einen dauerhaften Platz von ein paar Quadratmetern Größe zu sichern meint; auch für deren Ewigkeitsstatus würde ich nicht meine Hand ins Feuer legen wollen – schließlich ist die Ewigkeit ja doch ein recht langer Zeitraum.

Zeitkreuzungen

Aber gerade diese beständigen, wenn auch eher allmählichen Bewegungen auf dem Friedhof führen zu dem irritierenden Phänomen, dass dort zuweilen weit entfernte Zeitpunkt räumlich nahe zusammenrücken. Dort liegen dann Erna und Wilhelm, die höchstens noch einen Vorgeschmack des 20. Jahrhunderts erahnen konnten, neben Anne-Sophie und Kevin, die außer ihrer physischen möglicherweise auch noch eine virtuelle Grabstelle haben. Sie scheinen nichts miteinander zu tun zu haben und sind doch ganz nah beieinander.

Man kann auf dem Friedhof viel lernen. Man kann sehen, wie sich die Einstellungen zum Tod ändern. Man kann sich selbst von den vielen Gräbern nach dem Sinn des eigenen Lebens und den eigenen Strategien des Überlebens über den Tod hinaus befragen lassen (das Schreiben ist hier beispielsweise eine beliebte Variante). Man kann auch mit Wolfgang Herrndorf die berechtigte Frage stellen, wann endlich einmal mit den Lebenden so pietätvoll umgegangen wird wie mit Sterbenden oder Toten. [1] Und man kann sich auch nach der Zeit und den Zeiten befragen lassen, mit denen und in denen man lebt. Selbst wenn dabei keine ausgefeilte Zeitphilosophie herauskommen sollte (was auch weder zu erwarten noch unbedingt anzustreben wäre), so kann man sich doch von der gleichzeitigen Präsenz von Hinterbliebenen und Vorverstorbenen, von der Vermischung von Ewigkeitswünschen (oder gar Ewigkeitsdünkeln?) und Kurzeitterminierungen, von genauen Lebensdatierungen und deren offensichtlicher Sinnlosigkeit im Angesicht des Todes, vom stummen Gespräch zwischen Diesseitigen und Jenseitigen oder vom räumlichen Nebeneinander chronologisch divergenter Jahrhunderte zumindest soweit irritieren lassen, dass man einer simplen linearen Zeitvorstellung zu misstrauen beginnt.

Der Friedhof ist dann nicht mehr nur ein Ort des Gedenkens, sondern auch des Bedenkens der Zeit(en), die wir haben oder die wir möglicherweise haben wollen. Hier ist nicht nur die Trauer über die Toten zu Hause, sondern auch die Hoffnung anderer Zeitmodalisierungen, weil sich genau hier die sehr unterschiedlichen Verzeitungen begegnen, überkreuzen und gegenseitig durcheinanderbringen. Insofern sei mal wieder ein Besuch auf dem Friedhof angeraten, auch und gerade wenn dazu kein Anlass besteht. Es muss ja nicht der triste November sein. Im Frühjahr ist es dort auch recht schön.

 

Anmerkungen

[1] Wolfgang Herrndorf, Arbeit und Struktur, Berlin 2013, 255.

Ein ManifestUhren

Es scheint die Zeit der Manifeste zu sein. Ähnlich wie im frühen 20. Jahrhundert, als Marinetti 1909 das Manifest des Futurismus veröffentlichte oder André Breton ab 1924 gleich mit mehreren Manifesten den Surrealismus zu installieren versuchte [1], bemüht sich auch das frühe 21. Jahrhundert darum, Orientierung in manifester Form zu gewinnen. Was müssen das für Zeiten sein, in denen solche Texte gedeihen? Phasen, die bestimmt sind durch die Verunsicherung einst unhinterfragter Parameter, durch den Verlust richtungsweisender Wegmarken, durch die Suche nach Alternativen zum Bestehenden. Es müssen vielleicht gar nicht politisch oder wirtschaftlich krisenhafte Zeiten sein, eher scheinen die systemischen Zusammenhänge, in denen man existiert, gerade deswegen so irritierend und verunsichernd, weil sich keine echte Alternative aufdrängt – und weil man zugleich weiß (oder zumindest ahnt), dass es so wie bisher nicht weitergehen kann.

Vielleicht ist das aber auch völliger Unsinn. Womöglich ist jede Zeit eine gute Zeit für Manifeste. Wobei es natürlich eine Sache ist, ein Manifest aufzusetzen, und eine ganz andere, damit auch Gehör zu finden. In der allerjüngsten Vergangenheit konnte man gleich über mehrere Vertreter dieser Textgattung stolpern, die in den Feuilletons zumindest kurzzeitig für Aufmerksamkeit sorgten. Wie weit ihre Halbwertzeit reicht, wird sich erst noch weisen müssen. So erschien vor ein paar Jahren erschien in Frankreich „Der kommende Aufstand“ des „Unsichtbaren Komitees“, worin unter kommunistischen Vorzeichen – nun ja, der kommende Aufstand angekündigt wurde. [2] Ganz anders geartet ist das „Manifest des neuen Realismus“ von Maurizio Ferraris, als, offen gestanden, wenig überzeugender Versuch, den „Wert der Wirklichkeit“ gegen Postmoderne und Konstruktivismus zu retten, um sich damit nicht nur in befremdliche Selbstwidersprüche zu verheddern, sondern mit dieser Oppositionshaltung selbst schon wieder ‚postmodern‘ zu wirken. [3] Und kaum hat man einmal fünf Minuten nicht hingesehen, erscheint auch schon wieder ein neues Manifest: „The History Manifesto“ wurde veröffentlicht, während ich an diesem Beitrag schrieb.

Konvivialismus

Ein weiteres, ebenfalls sehr frisches Beispiel ist „Das konvivialistische Manifest“ (als PDF kostenfrei herunterzuladen). Auf eine vornehmlich französische Initiative zurückgehend, stellen in diesem Manifest etwa 40 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die teils sehr unterschiedlichen Zusammenhängen entstammen, Forderungen auf, die sich in zwei Richtungen hin zuspitzen lassen. Erstens geht es um die Überwindung der ökonomischen Religion, um ein Hintersichlassen des nackten Wachstumswillens, der seinen Endzweck nur noch in sich selbst hat, und um die Ersetzung eines Eigennutzdenkens durch eine stärkere Gemeinnutzorientierung. Zweitens geht es um das Aufzeigen oder vielmehr Zusammenführen alternativer Modelle zur Organisation von Wirtschaft, Gesellschaft, Politik und Kultur, die sich nicht mehr auf Wachstum und Eigennutz kaprizieren, sondern – wie der Name schon sagt – das Zusammenleben mit Menschen, Tieren, Pflanzen und Gegenständen in den Mittelpunkt rücken.

Mit dem konvivialistischen Manifest liegt ein weiterer Beitrag vor, der versucht deutlich zu machen, dass und wie Alternativen zu herrschenden Formen des Wirtschaftens und Lebens aussehen könnten. Sympathisch daran ist nicht nur die undogmatische Herangehensweise, sondern auch der konkrete Bezug zu bereits bestehenden Projekten in diese Richtung sowie nicht zuletzt die Einsicht, dass die Grundlage eines solchen Konvivialismus ein Umdenken sein muss, das nichts weniger wäre als eine kulturelle Revolution. Diese Revolution kann allerdings nicht über Nacht vonstattengehen kann, sondern wird Zeit in Anspruch nehmen – sehr viel Zeit, einfach weil sie ein grundsätzliches Umstellen kollektiver Handlungsmaximen und Denkschemata erfordert (und um das zu erreichen, wird es wahrscheinlich noch vieler Manifeste und Denkanstöße bedürfen). Das mag vielleicht nicht alles ganz neu sein (was, wenn man den Konvivialismus ernst nimmt, auch gar nicht sein muss – denn ist nicht auch der beständige Ruf nach Neuem in den Wissenschaften ein Ausdruck des Wachstumsdenkens?), aber es ist konzise auf den Punkt gebracht.

Kontemporalismus

Die Feststellung dürfte nicht allzu gewagt sein, dass in diesen Prozess des Umdenkens auch der Faktor Zeit mit einbezogen werden muss. Das scheint mir in zweierlei Hinsicht bedeutsam zu sein. Erstens findet das Miteinanderleben nicht nur unter Anwesenden statt, nicht nur gemeinsam mit Lebewesen und Gegenständen, mit denen wir unsere Gegenwart teilen, sondern ebenso mit den zeitlich Abwesenden. Mit Blick auf die Zukunft ist das unmittelbar einsichtig, denn gerade aus Sorge um das Leben auf (und mit) diesem Planeten in den kommenden Jahrzehnten machen sich ja solche Überlegungen wie der Konvivialismus breit, wächst seit geraumer Zeit das Bewusstsein, dass – wie es immer mit einem sonntagspredigenden Unterton heißt – wir die Erde von unseren Kindern nur geborgt haben. Aber es trifft eben auch mit Blick auf die Vergangenheit zu. Das äußert sich nicht nur in ganz praktischen Aspekten wie dem Recyceln, Reparieren, Bewahren und Weiterverwenden von Dingen, die nicht allein schon deswegen weggeworfen werden müssen, weil sie ein gewisses Alter haben. Sondern das sollte sich auch äußern in einer Art und Weise, die Komplexität von Vergangenheiten ernst zu nehmen, diese Vergangenheiten nicht zu schlichten und unvollkommenen Vorläuferstadien der eigenen Gegenwart zu reduzieren, um stattdessen all die Möglichkeiten zu entdecken, die in diesen Vergangenheiten stecken und die für uns heute noch von Bedeutung sein können.  Es geht also darum, die Geschichte immer auch auf Wirklichkeiten hin zu befragen, die noch nicht realisiert worden sind oder die einst realisiert wurden, aber zwischenzeitlich dem Vergessen anheimfielen (ohne deswegen ausgelöscht worden zu sein). Ein sehr offensichtliches Beispiel ist das Verhältnis von Gemeinnutz und Eigennutz, das bis in das 17. und 18. Jahrhundert hinein immer wieder intensiv debattiert wurde, bevor der Eigennutz als diskursiver Sieger hervorging und der Gemeinnutz als ‚vormodern‘ und ‚traditionalistisch‘ in die Asservatenkammer verbannt werden konnte. [4]

Wohlgemerkt: In dieser Weise auf die Kontemporalität als einem Miteinander der Zeiten hinzuweisen, soll nicht auf die Allerweltsweisheit hinauslaufen, es sei alles schon einmal dagewesen. Es gilt vielmehr deutlich zu machen, dass auch die nicht verfügbaren Zeiten der Vergangenheit und Zukunft in einer Gegenwart zusammenfallen und zur Gestaltung des Hier und Jetzt von elementarer Bedeutung sind.

Diese gegenwärtige Anwesenheit abwesender Zeiten scheint mir in einer zweiten, eher theoretischen Hinsicht noch bedeutsamer zu sein, weil sie unmittelbar das nötige Umdenken und die angesprochene kulturelle Revolution betrifft. Denn wenn man ernsthaft das Wachstumsdenken überwinden will, dann muss man unweigerlich auch das damit verbundene Zeitmodell verabschieden. Das eine ist ohne das andere nicht zu haben. Schließlich ist es die immer noch herrschende Vorstellung vom Zeitstrahl, von einer homogenen und linearen Zeit, die üblicherweise als Grundlage dafür dient, innerhalb dieser Zeit eine entsprechende Entwicklung anzunehmen. Dieser Entwicklung wird zumindest implizit ein – wenn auch nebulöses – Ziel unterstellt, das wahlweise Dekadenz und Niedergang oder eben Fortschritt und Wachstum heißen kann. Erst wenn wir lernen, Zeit anders zu denken, nämlich als Pluralität unterschiedlicher Verzeitungen, die parallel zueinander existieren, sowie als Ergebnis von praktischen Differenzierungen zwischen Vergangenheit und Zukunft, die in einer Gegenwart getroffen werden, dann wird auch ein Abschied von der Wachstumsreligion möglich, der nicht mehr als Verlust erscheint, sondern als veränderte temporale Organisation. Denn wir leben nicht in der Zeit, wir leben mit den Zeiten.

 

[1] André Breton: Manifeste des Surrealismus, Reinbek bei Hamburg 1986.

[2] Unsichtbares Komitee: Der kommende Aufstand, Hamburg 2010.

[3] Maurizio Ferraris: Manifest des neuen Realismus, Frankfurt a.M. 2014.

[4] Winfried Schulze: Vom Gemeinnutz zum Eigennutz. Über den Normenwandel in der ständischen Gesellschaft der Frühen Neuzeit, in: Historische Zeitschrift 243 (1986) 591-626.

Ins Innere des Rundenfußball

Seit Wochen schon ist der Blick fixiert auf die Kugel, in der Hoffnung, sie möge ihr Geheimnis preisgeben, sie möge Einsicht gewähren, in die Dinge, die da kommen werden, und sie möge Antwort geben auf die Frage, die alle umtreibt: Wer wird’s? Dummerweise ist die Kugel nicht aus Glas, auch nicht mehr aus Leder (selbst wenn sie etwas traditionsverbunden-metaphorisch immer noch so bezeichnet wird), sondern aus irgendeiner hochgezüchteten Kunststoffmischung, zu deren Entwicklung wahrscheinlich Summen aufgewendet wurden, für die man mancherorts ganze staatliche Sozialversorgungssysteme aufpäppeln könnte. Die Welt starrt auf den Fußball und versucht das Unmögliche, nämlich in die Zukunft zu blicken, um heute schon zu wissen, was morgen passieren wird und welche Mannschaft in einigen Wochen den Pokal in die Höhe heben darf. (Nur nebenbei: Warum ist es eigentlich nicht möglich, einmal einen ästhetisch ansprechenden Pokal zu entwerfen? Warum immer diese hässlichen Dinger? Die Fußball-WM-Statue ist noch nicht einmal das Schlimmste: Man sehe sich nur einmal den Pokal der Handball-Champions-League an. Sieht aus wie die Resteverwertung einer Zombie-Amputation.)

Eine nicht ganz unwesentliche Schwierigkeit besteht ja darin, dass hier etwas recht Einfaches und etwas recht Kompliziertes aufeinandertreffen. Während die Regeln des Fußballspiels im Prinzip noch einigermaßen überschaubar sind, macht der hohe Kontingenzfaktor (Physis und Psyche der Spieler, Taktik, Schiedsrichter, Publikum, Wetter …) schon die Prognose eines jeden Spiels zu einer unsicheren Angelegenheit, von der Vorhersage eines ganzen Turniers ganz zu schweigen. Da aber in allen Medien wesentlich mehr Zeit dafür aufgewendet wird, über den Fußball zu reden und zu schreiben als ihn tatsächlich spielen zu lassen, ergeht sich derzeit die halbe Welt in Prognosen, Spekulationen und Prophezeiungen. Da alle wesentlichen Erkenntnisse zum Fußballspiel bereits vom ehemaligen Reichs- beziehungsweise Bundestrainer Sepp Herberger formuliert worden sind, kann man sich seither entweder in hochspezialisierten Diskussionen oder in der Reproduktion von Leerformeln ergehen.

Die Dauer des Spiels

Nun verrät die Art und Weise, wie im Fußball mit Zeit umgegangen wird, einiges über das allgemeine kulturelle Verständnis von Zeit. Wie wird mit Hoffnungen und Ängsten, mit harten Fakten und vagen Vermutungen in einer Umgebung umgegangen, bei der die Anzahl der gesellschaftlichen Spielregeln sich noch einigermaßen überschauen lässt, bei der die soziale Praxis aber so viele Variationsmöglichkeiten bietet, dass der Verlauf hinreichend unsicher und damit hinreichend spannend bleibt? Beim Fußball und insbesondere bei der von einem mafiösen Männerbund organisierten Fußballweltmeisterschaft kann man Kulturen wie in einer Laborsituation dabei zusehen, wie sie sich temporal zu organisieren versuchen – und wie vielfältig die zur Verfügung stehenden Temporalitäten sind.

Das Prognostizieren wird unversehens zu einem Massenphänomen. Millionen von Menschen versuchen sich in der Vorhersage eines ausschnitthaften Geschehens für die kommenden vier Wochen, Tippgemeinschaften schießen wie Pilze aus dem Boden, Geld wird in Wettbüros investiert. Wissenschaft und Technik stehen dabei nicht an der Seitenlinie, sondern formieren die Schaltzentale im Mittelfeld. Die Intuition, der die meisten Fußballfans folgen würden, nämlich die Qualität und die bisherigen Erfolge der Mannschaften unter die Lupe zu nehmen, wird hierbei weitestgehend systematisiert. Alle nur denkbaren Faktoren werden in mehr oder minder komplexe Software-Programme eingespeist: Fifa-Weltranglistenplatz, Spielerdaten, Marktwert des Teams, bisherige Spiele gegen die jeweiligen Gegner, undsoweiter undsofort. Auf dieser Basis kann man Hochleistungsrechner dann beispielsweise alle möglichen Spiele des Turniers einige tausend Mal durchexerzieren lassen, um zu einem Ergebnis zu kommen, das die Kinder aus der Grundschule um die Ecke auch ohne diesen Aufwand schon kannten: dass nämlich entweder Brasilien oder Spanien oder Argentinien oder Deutschland Weltmeister wird. Oder auch nicht.

Hier feiert er also fröhliche Urständ, der alte Grundsatz der historia magistra vitae, wonach man aus der Lehren der Vergangenheit ohne Schaden klug werden kann, um in der Gegenwart das Richtige zu tun. Allerdings wird dieser Grundsatz zur Perfektion getrieben, weil es ja nicht nur um allgemeine Handlungsanweisungen geht, sondern um historische Gesetzmäßigkeiten. Auch wenn durch die Computersimulation nicht endgültige, sondern nur wahrscheinliche Sicherheiten prognostiziert werden, operiert dieses Vorgehen trotzdem nomothetisch. Man könnte also von vornherein nur diese vier Mannschaften zu einer dreitägigen Veranstaltung einladen, um unter ihnen den Titel ausspielen zu lassen. Aus irgendeinem Grund verzichtet die Fifa aber auf diese Variante …

Zugleich weiß jeder, dass solche Gesetzmäßigkeiten nichts wert sind. Denn wenn sie tatsächlich zuträfen, hätte Spanien beispielsweise nie irgendeinen Pokal gewinnen dürfen – weil sie über Jahrzehnte hinweg nie irgendetwas gewonnen haben, ergo in solchen Berechnungsmodellen auch nie auftauchten. Bis 2008. Und da kommt die zweite Form semi-rationaler/semi-magischer Zukunftsberechnungen – wortwörtlich – „ins Spiel“, nämlich die Banalstatistik, in der Fußballsprache auch „Serie“ genannt. Aus solchen Serien werden zumindest implizit gesetzmäßige Schlussfolgerungen für die Zukunft gezogen. Wenn ein Team 13-mal nicht verloren hat, bei sieben Turnieren hintereinander nie über das Achtelfinale hinausgekommen ist, immer als Favorit gehandelt wurde, aber nie geliefert hat, dann … Ja, was dann? Kann man irgendwelche Rückschlüsse daraus ziehen? Vielleicht diejenige, dass eine solche Serie und die damit einhergehende Regel genauso lange Gültigkeit besitzt, bis sie unterbrochen wird, damit eine andere Serie beginnen kann.

Der nächste Gegner

Auf einer noch wackligeren Datenbasis steht die Prognose, die man insbesondere in Deutschland immer wieder mal hören kann, dass man nämlich „jetzt mal wieder dran“ sei. Dahinter steht die angenommene Gesetzmäßigkeit, dass die deutsche Nationalmannschaft in einem gewissen Rhythmus einen internationalen Titel zu gewinnen habe und dass das nächste Intervall dieser Rhythmisierung nun schon überfällig sei. Damit verbinden sich nicht selten bestimmte Ideen von historischen Verlaufsmodellen, die sich im Prinzip nicht sehr von religiösen Geschichtsmodellierungen entfernt haben. Bestimmte Länder oder Städte wähnen „ihre“ Mannschaft beispielsweise auf einer göttlichen Mission, die unweigerlich im sportlichen Himmelreich enden müsse. Für die Anhänger des 1. FC Köln kann es beispielsweise immer nur nach oben gehen. Kaum ist der Aufstieg in die 1. Liga geschafft, wartet dort auch schon Meisterschale. Und selbst der nächste Abstieg wird unweigerlich als Zeichen gedeutet, dass es jetzt ja nur noch aufwärts gehen und der nächste Triumph nicht mehr fern sein könne. Fußballgeschichte als Heilsgeschichte – mit einem unweigerlich positiven Ausgang. Besonnene Gemüter (und gebürtige Düsseldorfer) müssen da zuweilen zur Ruhe mahnen. Das Gegenbeispiel wäre die portugiesische Nationalmannschaft, deren Auftreten regelmäßig mit dem Fado in Verbindung gebracht wird: schönes Spiel mit traurigem Ausgang. Portugal hat es sogar geschafft, mit einer hervorragenden Mannschaft im eigenen Land 2004 das Endspiel zu verlieren – gegen Griechenland! Und zwar nachdem man schon das Eröffnungsspiel verloren hat – gegen Griechenland! Wer wollte da noch am Wirken höherer Mächte zweifeln?

Niemand! Weshalb man am besten gleich versuchen sollte, sich auf die Seite dieser Mächte zu stellen. Denn mindestens ebenso populär und ernst genommen wie hochgezüchtete und hochtechnisierte Computerberechnungsmodelle sind die mehr oder minder magischen Formen der Zukunftsvorhersage. Zu internationalem Ruhm ist Krake Paul gelangt, der mit schlafwandlerischer Sicherheit die Spiele der Weltmeisterschaft 2010 „vorhergesagt“ hat – selbst wenn nüchterne Beobachter den Eindruck haben konnten, dass er einfach nur hungrig war. Inzwischen verfügt gefühlt jeder zweite Zoo beziehungsweise Tierbesitzer über ein Lebewesen mit entsprechenden seherischen Gaben. Elche, Gürteltiere, Pinguine, Möpse und, man höre und staune, sogar Kraken kommen allenthalben zum Einsatz. Das soll irgendwie witzig sein, auch wenn es gerade so komisch ist wie ein Scherz, der zum tausendsten Mal wiederholt wird. Selbst die Deutsche Bahn ist auf dieses Geschäftsmodell eingestiegen und preist irgendwelche Bahncards an, bei denen man den künftigen Weltmeister orakeln darf.

Auf welche überirdischen Mächte diese Orakel sich verlassen (vielleicht auf den Fußballgott?), ist in diesen semi-säkularisierten Zeiten nicht ganz sicher. Zumindest befleißigen sie sich anders als die Wahrscheinlichkeitsberechnungen nicht des Rückbezugs auf vergangene Zeiten. Der Ort der magischen Weisheit liegt im nebligen Irgendwo. Vielleicht auch nur in der Magengrube eines Tieres. Und selbst wenn man am Ende des Tages feststellen sollte, dass Magier und Rationalisten sowohl ein paar Treffer gelandet haben als auch mal wieder ganz ordentlich daneben lagen, dann bleiben vielleicht doch noch ein paar Einsichten zurück: dass wir uns aus Gründen der temporalen Orientierung irgendwie zu den ungreifbaren Zeiten namens Vergangenheit und Zukunft verhalten müssen; dass diese Formen der Verzeitung nicht nur variantenreich sind, sondern vor allem einigen Aufschluss über die verzeitenden Kulturen geben; und dass wir zwar nicht mehr aus der Vergangenheit für die Gegenwart lernen können, dass wir aber auch nichts anderes haben als die Vergangenheit, von dem wir lernen können.

Und damit ist in puncto Weltmeisterschaft eigentlich mehr oder minder klar, was passieren wird. Einer der Favoriten wird Weltmeister. Oder einer der sogenannten Geheimfavoriten macht es, die so geheim sind, dass alle ihre Namen kennen. Es sei denn natürlich, die Kontingenz des Historischen schlägt mal wieder gnadenlos zu, und alles kommt anders als alle sich das vorher ausgedacht haben. Soll schon vorgekommen sein, siehe Griechenland gegen Portugal oder die dänische Europameisterschaft 1992. Aber auch dafür gibt es dann ja wieder historische Gesetzmäßigkeiten, die man anführen kann: Zufall! Unglaublich! Wahnsinn!

Unordnung und spätes LeidKalender

Nicolas Sarkozy hätte gerne seine Vergangenheit zurück. Bekommt er aber nicht. Der französische Kassationshof hat als höchste gerichtliche Instanz entschieden, dass die Vergangenheit des ehemaligen französischen Präsidenten wenn auch kein nationaler Erinnerungsort, so doch zumindest Gegenstand strafrechtlicher Ermittlungen ist. Also bleibt diese Vergangenheit vorerst in der Obhut des Staates – dessen Stärke bei der Verfolgung von Straftätern Sarkozy als aktiver Politiker, vor allem agiler Innenminister immer wieder so gern betont hat. Ganz Populist, sprach er damals davon, die Jugendkriminalität aus den banlieues herauskärchern zu wollen. Nun ist ihm der Hochdruckreiniger selbst auf den Fersen.

Es gibt ja auch einiges zu tun, selbst wenn im Moment noch nicht klar ist, was strafrechtlich davon übrigbleiben wird. Den Überblick über die Affären und Untersuchungsverfahren kann man derzeit leichthin verlieren. Hier ist nicht der Ort, um das im Detail nachzuerzählen – zumal noch nicht mit letzter Sicherheit geklärt ist, was denn nun tatsächlich wann passiert ist. Auf jeden Fall geht es um Geld und Wahlkämpfe, um dubiose Freundschaften und befremdliche Kanäle für Spenden und Informationen. Der Prozess wegen illegaler Parteispenden der L’Oreal-Erbin Ingrid Bettencourt wurde aus Mangeln an Beweisen bereits eingestellt, aber da steht ja noch der Verdacht im Raum, vom lybischen Diktator Gaddafi Geld angenommen zu haben (auch keine politische „Freundschaft“, mit der man aktuell noch in Verbindung gebracht werden möchte…). Zudem kam beim Abhören des Mobiltelefons von Sarkozy der Verdacht auf, er hätte Informationen von einem Mitarbeiter des französischen Kassationshofes erhalten. Schließlich ist auch noch nicht geklärt, wie Bernard Tapie zu der erheblichen Entschädigungssumme von 403 Millionen Euro kam – wobei sich der den Sozialisten nahestehende Tapie vor und nach dieser Entscheidung auffallend oft mit dem konservativen Sarkozy traf. Delikat ist schließlich auch Sarkozys ehemaliger Berater Patrick Buisson, der hunderte von Gesprächen mit seinem Chef mitschnitt. Wie praktisch, wenn man der Polizei das Mitlauschen abnimmt, indem man sich die lebende Abhöranlage gleich ins Haus holt.

Synchronisation von Unterschiedlichem

Um Ordnung in diesen Wust zu bekommen, interessieren sich die Ermittlungsbehörden nun für die Vergangenheit Sarkozys in ihrer dokumentierten Form: für seine Terminkalender. So ein Terminkalender ist ein seltsam‘ Ding. Eine Ansammlung weitgehend leerer Blätter, nur versehen mit den wichtigsten Informationen zu den Tagen, Wochen und Monaten. Ansonsten nichts. Und dafür darf man auch noch Geld bezahlen. Gut, spätestens mit den elektronischen Kalendern hat sich das mit dem Bezahlen erledigt, aber das formale Prinzip ist sich gleich geblieben. Und elektronische Kalender, so würde ich mal vermuten, gehen in Regierungskreisen gar nicht. Da könnte man deren Inhalt an alle Geheimdienste dieser Welt gleich selbst übermitteln. Also werden die so genannten politischen „Entscheider“ dieser Welt (einer der hässlichsten Neologismen der Welt) ihre Termine schön abhörsicher auf Papier führen.

Dank Sarkozy wird der Terminkalender endlich einmal in das Rampenlicht gestellt, das ihm gebührt. Dieses ansonsten so unscheinbare und selbstverständliche Medium ist eine der interessantesten Erfindungen der europäischen Kulturgeschichte, weil es Indiz für ein ganz bestimmtes Zeitwissen ist, das sich keineswegs von selbst versteht. Zeit als verfügbare und beplanbare Ressource hat sich – nimmt man die Existenz von Terminkalendern als Indiz – nicht vor dem späten 17. Jahrhundert als Idee durchgesetzt. Damit wurde es möglich, unterschiedliche Dinge zur gleichen Zeit zu synchronisieren – zum Beispiel Treffen mit diversen Wahlkampfspendern.

Werbepause

Wir unterbrechen unsere Argumentation an dieser Stelle für einen kurzen Werbeblock: Vielleicht nicht ganz passend zur französischen Staatsaffäre, aber durchaus passend zum größeren thematischen Zusammenhang möchte ich gänzlich unbescheiden an dieser Stelle auf mein neues Buch aufmerksam machen: Geburt der Gegenwart. Eine Geschichte der Zeit im 17. Jahrhundert. Zugegeben, es handelt nicht von Sarkozy oder sonstigen mehr oder minder tagesaktuellen Angelegenheiten. Tatsächlich konzentriert es sich mit dem 17. Jahrhundert sogar auf einen Zeitraum, der nun tatsächlich verhältnismäßig weit weg von unserer eigenen Gegenwart zu sein scheint. Aber Aktualität bemisst sich ja nicht nur nach diachroner Nähe oder Ferne, sondern nach Relevanz für unser Hier und Heute! Und da denke ich, dass uns das 17. Jahrhundert einiges zu bieten hat. Zum Beispiel den Terminkalender! Und die Gegenwart! Beides wurde nämlich, so versuche ich in diesem Buch zu zeigen, im Verlauf des 17. Jahrhunderts „erfunden“, mit Folgen, die Sarkozy gerade zu spüren bekommt. Wie man im 17. Jahrhundert mit Zeit umgegangen ist, was das mit uns heute zu tun hat und was (Termin-)Kalender uns darüber verraten können – das und einiges mehr wird in diesem Buch verhandelt. Ende der Werbepause.

Illusion des Kalenders

Wenn nun die französische Polizei die Terminkalender von Sarkozy beschlagnahmt hat, dann könnte es allerdings sein, dass die Hoffnungen auf ein eindeutiges Ermittlungsergebnis enttäuscht werden. Denn Terminkalender teilen die Schwierigkeiten aller Medien, die uns aus einer Vergangenheit überliefert sind. Sie stellen zwar bestimmte Verbindungen zwischen gegenwärtigen und vergangenen Wirklichkeiten her, diese müssen aber keineswegs eindeutig sein. Wenn in den Terminkalendern von Sarkozy ein Treffen mit Bettencourt, Tapie oder Gaddafi eingetragen ist, muss es dann zwangsläufig um Parteispenden gegangen sein? Vielleicht wurden mit guten Freunden auch nur ein paar Beziehungsprobleme diskutiert? Vielleicht hat das Treffen auch gar nicht stattgefunden, denn nur weil ein terminkalendarischer Eintrag vorhanden ist, muss dem nicht zwangsläufig ein Ereignis in der außerkalendarischen Welt entsprechen. Wir haben es also mit bestimmten Übertragungsleistungen zu tun, die das historische Material erbringt, bei denen das Ausgangsmaterial aber auch jedes Mal verändert wird, ohne dass sich die Transformationen bis ins Letzte ausleuchten lassen. Erst unser Zeit- und Geschichtsverständnis bastelt aus Gründen der Nachvollziehbarkeit daraus im Nachhinein eine eindeutige Erzählung.

Und auch hierbei spielt der Kalender wieder eine wesentliche Rolle. Denn er gibt mit seinem strengen zeitlichen Nacheinander der Illusion weitere Nahrung, wir hätten es bei unserem eigenen Leben mit einem stringenten „Lebenslauf“ zu tun. Wenn man nur Tag für Tag etwas hineinschreibt, ergibt sich quasi von selbst eine Geschichte. [1] Aber nicht weil diese Geschichte tatsächlich so passiert ist, sondern weil wir diese Geschichte so erzählen. Helmut Kohl hat mit seinen Erinnerungen unter anderem vorgemacht, wie das geht. Nicht zuletzt deswegen sind die Terminkalender für Sarkozy so wichtig. Sicherlich geht es um Dokumente, die im Moment aus juristischen Gründen für ihn problematisch werden könnten. Darüber hinaus geht es aber auch um die Deutungsmacht über seine Biographie und seine Präsidentschaft. Jetzt könnte es nämlich sein, dass diese nicht mehr bei ihm selbst liegt, sondern von anderen übernommen wird. Wenn Sarkozy also irgendwann die Terminkalender wieder ausgehändigt bekommt, wird er dadurch wohlmöglich nicht mehr seine Vergangenheit zurückbekommen. Er könnte stattdessen eine bereits fertig geschriebene, aber nicht seinen Interessen entsprechende Geschichte vorgesetzt bekommen.

[1] Michael Rutschky: Das Merkbuch. Eine Vatergeschichte, Berlin 2012.

ZerknittertDie biographische Illusion

Am 26. August 2013, gegen 23.15 Uhr, steckt sich Wolfgang Herrndorf am Ufer des Berliner Hohenzollernkanals eine Pistole in den Mund, zielt auf das Stammhirn und drückt ab.

In diesem Moment wurden sie wieder zur Deckung gebracht, die verschiedenen Zeiten im Leben Wolfgang Herrndorfs, die in den Jahren zuvor auf teils abenteuerliche, teils tragische Weise auseinandergedriftet waren.

Die einfache Chronologie der Ereignisse, wie sie wohl jede klassische Biographie zum Besten geben würde, könnte dabei folgendermaßen aussehen: Wolfgang Herrndorf, geboren 1965, arbeitet als Maler und Illustrator, bevor er beginnt, Bücher zu schreiben: 2002 Debüt mit „In Plüschgewittern“, 2007 der Erzählungsband „Diesseits des Van-Allen-Gürtels“. Beide werden von der Kritik freundlich aufgenommen, verkaufen sich aber unterhalb der Aufmerksamkeitsschwelle. 2010 dann der Durchbruch: „Tschick“ stürmt die Charts und macht seinen Verfasser reich. Ein Jahr später erscheint der Roman „Sand“, die Literaturpreise purzeln nun auch. Parallel dazu schreibt Herrndorf an seinem Blog „Arbeit und Struktur“, das sein Leben mit dem Tod behandelt. Ein diagnostiziertes Glioblastom hatte inzwischen das Lebensende auf Sichtweite herangezoomt. Es war von Anfang an Herrndorfs Plan, das Blog ebenfalls als Buch zu veröffentlichen, was wenige Monate nach seinem selbstbestimmten Tod auch geschehen ist.

Aber so einfach, wie die Chronologie suggeriert, ist die Sache nicht.

Falten und Risse

In einem Interview-Buch befragte der Soziologe und Wissenschaftstheoretiker Bruno Latour sein großes Vorbild, den Philosophen Michel Serres, zu zahlreichen Themen seines Denkens und Arbeitens, unter anderem auch zur Zeit. Serres äußert bei dieser Gelegenheit seine Unzufriedenheit mit einem allzu schlichten Zeitverständnis, das darin nur eine gleichmäßig dahinfließende Linie zu erkennen vermag. Für ihn ähnelt die Zeit eher einem zerknitterten Taschentuch. Zwei Punkte, die bei einem ausgebreiteten, flachen Tuch noch weit voneinander entfernt liegen, können sich in der zerknitterten Variante annähern, können sich sogar überlagern und zusammenfallen. Wird das Tuch anders gefaltet oder zerrissen, können sich Punkte, die gerade noch in unmittelbarer Nachbarschaft lagen, weit voneinander entfernen. Nicht anders ist es mit der Zeit, die für Serres nicht einer gleichmäßig getakteten Chronologie folgt, sondern sich durch variierende Bezüglichkeiten auszeichnet und eher eine Topologie unterschiedlicher Nähen und Fernen ähnelt. [1]

Wolfgang Herrndorfs Buch „Arbeit und Struktur“ ist Ausdruck dieser Zerknitterung. Es ist nicht zuletzt ein Buch über die Zeit, besser: ein Buch von der Überlagerung und Verwirbelung der Zeiten und von ihrer gleichzeitigen und nachträglichen Historisierung. Es ist ein sprechendes Beispiel dafür, wie wir (unsere) Geschichte schreiben – und wie wir sie wohlmöglich anders schreiben könnten, wenn nicht gar anders schreiben müssten.

Schlägt man das Blog-Buch auf, scheinen die Zeiten noch in Ordnung zu sein. Die Darstellung ist übersichtlich, linear, chronologisch strukturiert. Die Einträge sind penibel mit Datum und Uhrzeit versehen, zeigen damit ein Nacheinander des Geschehens, das der temporalen Eindeutigkeit Vorschub leistet.

Die Aufzeichnungen beginnen, nachdem Herrndorf schon einige Wochen Kenntnis von seiner Diagnose hat. Die Leserschaft weiß, dass Herrndorf sterben wird, und Herrndorf weiß es auch. Damit könnten die Dinge ihren Lauf nehmen, könnten wir das langsame Sterben des Helden lesend abschreiten. Tun wir auch. Zugleich geschieht aber noch etwas anderes. Denn trotz aller Chronologie geraten die Zeiten schon auf den ersten Seiten in Unordnung, wenn Herrndorf beispielsweise in einem Prolog seiner Sehnsucht nach postnataler Bettwärme Ausdruck verleiht. Schon hier deuten sich die Turbulenzen an, in denen sich die Zeiten üblicherweise bewegen – nur dass wir dies unter den Bedingungen einer Uhren-und Kalenderzeit nicht mehr wahrzunehmen gewohnt sind. Angesichts einer unheilbaren Krebsdiagnose kommen diese temporalen Verwirbelungen wesentlich deutlicher zum Vorschein.

Das strikte Nacheinander der datierten Blogeinträge wird einerseits dadurch unterbrochen (und das ist wenig überraschend), dass mittels Erinnerungen, Rückblenden, Nostalgien, dass durch Prognosen, Visionen, Befürchtungen, Hoffnungen zwischen den Zeiten hin- und hergesprungen wird. Die Gegenwart des Krankheitsverlaufs wird gespreizt durch Ausflüge in Vergangenheit und Zukunft. Wohlbefinden wartet im Gestern, wartet in der Miele-Waschmaschine, Baujahr 1968, „als der Mond noch nicht betreten, Borussia Neunkirchen noch in der Bundesliga und das elektronische Signallämpchen nicht erfunden war.“ (S. 19) Das Grauen wartet in der ungewiss-gewissen Zukunft, die aller Voraussicht nach nur eine Aussicht bietet, deren Dauer aber völlig im Unklaren bleibt. „Gib mir ein Jahr, Herrgott, an den ich nicht glaube, und ich werde fertig mit allem. (geweint)“ (S. 22)

In der Zeitmaschine

Wäre es nicht so witzig und so tragisch, nicht so präzise und so schonungslos beschrieben – diese Zeitumgangsformen könnten kaum überraschen, denn das sind die Zeitfaltungen, die wir alle aus unserm Alltag kennen. Interessanter wird es, wenn das Buch noch weitere Zeitschichten einknickt. Herrndorf schreibt im Frühjahr und Sommer 2010 von der Arbeit an dem „Jugendroman“, dass er bereits für eine 3000er Auflage dankbar wäre und dass er nach dem Erscheinen enttäuscht ist über das Ausbleiben von Rezensionen oder überhaupt irgendwelchen Reaktionen – und der Leser denkt unweigerlich: Meine Güte, er hat noch gar keine Ahnung, was da auf ihn zukommt. Man möchte ihm durch das Buch und durch die Zeiten und über die Schwelle von Leben und Tod hinweg zurufen: Halte noch ein wenig aus, dann wird er kommen, der Erfolg für deine Arbeit, der Lohn für all die Mühen. Aber was nützt das? Kaum ist die für uns bereits vergangene Zukunft des Riesenerfolgs von „Tschick“ auch in Herrndorfs Gegenwart angekommen, bleibt nur der Schluss: „25 Jahre am Existenzminimum rumgekrebst und gehofft, einmal eine 2-Zimmer-Wohung mit Ausblick zu haben. Jetzt könnte ich sechsstellige Summen verdienen, und es gibt nichts, was mir egaler wäre.“ (182)

Man kommt sich vor wie bei „Back to the future“, nur dass wir keine zauseligen Erfinder und keine komischen Zeitmaschinen benötigen, sondern nur den Blätterteig der Zeit aufmerksam beobachten müssen, um uns zwischen seinen Schichten bewegen zu können. [2] Denn der zukünftige „Tschick“, der hier noch nicht mal einen Titel hat, aber schon bald in der deutschen Literaturgeschichte des frühen 21. Jahrhunderts einschlagen wird, ist für die Leserschaft schon längst Vergangenheit, während er für die Gegenwart des Schreibenden kaum mehr ist als vage Zukunft. Diese Temporaltektonik wird durch die Todesthematik nochmals verkompliziert. Denn während wir Lesenden bereits wissen, wann und unter welchen Bedingungen Herrndorfs Leben endet, muss man mit ihm durch die gesamte, über 400 Seiten währende sichere Unsicherheit gehen, dass der Tod zwar kommt, aber keinen Termin nennen will. Morgen, nächsten Monat, in einem Jahr, gar in zehn Jahren?

Insbesondere in der ersten Hälfte des Buchs bewegen sich die Zeiten von Erzähler und Leser auf denkbar unterschiedlichen Ebenen. Die verschiedenen Zukünfte Herrndorfs – einen Jugendroman zu schreiben, der sich wahrscheinlich wieder nicht verkaufen wird, zu sterben, aber nicht zu wissen wann, und noch ein wenig Lebenszeit zu haben, aber nicht zu wissen wie viel – werden in der historisierenden Rückschau vereindeutigt zu einem linearen Ablauf. Dabei zeigt uns Herrndorfs Lebens- und Todesgeschichte, wie wichtig es ist, diese Vielfältigkeit der Zeiten aufrecht zu erhalten. Auch die fotografischen Selbstporträts, die in das Buch eingefügt sind, springen dem Betrachter als mediale Kreuzungspunkte der Zeiten ins Auge. Wir sehen dieses Bild nicht nur in unserer eigenen Gegenwart, sondern wissen zugleich um die Zukunft des Abgebildeten – die für uns bereits Vergangenheit ist. [3]

Diese möglichen und unmöglichen, gewissen und ungewissen Faltungen der Zeit fallen in der Gegenwart und im Leben Herrndorfs zusammen und führen zu einem Zustand (nicht nur, aber auch) der temporalen Lähmung: Während das Bewusstsein schon am Ziel der Reise angekommen ist, muss es noch warten, bis der Körper hinterherkommt. „Ein großer Spaß, dieses Sterben. Nur das Warten nervt.“ (401)

Aber je weiter das Buch voranschreitet, desto mehr kann man beobachten, wie sich die zerknitterte Zeit auseinanderfaltet, um sich der reinen Gegenwart zu ergeben – einer Gegenwart, die sich zunehmend darauf konzentriert, den richtigen Zeitpunkt des selbst gewählten Todes zu bestimmen: „Die Zukunft ist abgeschafft, ich plane nichts, ich hoffe nichts, ich freue mich auf nichts außer den heutigen Tag.“ (218)

Postskriptum: Hatte ich bereits erwähnt, dass „Arbeit und Struktur“ ein packendes Buch ist, ein großes Buch, das mit seiner verknappten und kristallklaren Sprache keine heuchlerische Sentimentalität aufkommen lässt, das schonungslos offen ist bis zur Schmerzgrenze, das witzig ist und voller Einfälle sprudelt, das Hoffnungen und Verzweiflungen aufblitzen lässt, das man auch und gerade dann lesen sollte, wenn man sich zufällig überhaupt nicht für gefaltete Zeiten interessiert? Noch nicht? Nun, dann wissen Sie, was Sie jetzt zu tun haben.

[Wolfgang Herrndorf: Arbeit und Struktur, Berlin 2013]

[1] Michel Serres: Aufklärungen. Fünf Gespräche mit Bruno Latour, Berlin 2008.

[2] Hans Magnus Enzensberger, Vom Blätterteig der Zeit. Eine Meditation über den Anachronismus, in: ders, Zickzack. Aufsätze, Frankfurt a.M. 1997, 9-30.

[3] Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt a.M. 2009.