Archive für Kategorie: Geschichtspolitik

Etablierte Muster

ZeitungMan nehme einen x-beliebigen Tag. Zum Beispiel den 28. August 2015. Man befrage diesen Tag und das Umgehen mit diesem Tag daraufhin, wie in ihm und mit ihm ‚Geschichte‘ gemacht wird.

Dann wird man feststellen können, wie besorgte Meldungen davon zu berichten wissen, dass die sogenannte ‚deutsche Mittelschicht‘ im Schwinden begriffen ist. Nahezu selbstredend kann eine solche Feststellung nicht ohne eine kurze Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Bundesrepublik auskommen. Mit wenigen Sätzen lässt sich dann der bundesdeutsche Mythos aufrufen, wonach im Nachkriegswirtschaftswunderland im Prinzip allen Menschen die Möglichkeit offen gestanden habe, mit Fleiß und Arbeit den Aufstieg in eben diejenige Mittelschicht zu schaffen, die sich nun gerade zu verflüchtigen scheint. Da wird dann in höchster sprachlicher Konzentriertheit und auch mit erheblicher historischer Simplifizierung eine vermeintlich eindeutige Auf- beziehungsweise Abwärtsentwicklung beschrieben, deren größtes Problem nicht zuletzt darin zu besteht, weiterhin einem Fortschrittsmodell verpflichtet zu sein.

Dann wird man ebenfalls feststellen können, dass auf der anderen Seite der Erdkugel sich das politische Pingpong-Spiel zwischen Nord- und Südkorea im Sinne einer Wiederkehr des Immergleichen beschreiben lässt. Die eine Seite wirft der anderen eine Provokation vor (in diesem Fall sind zwei südkoreanische Soldaten durch eine Mine verletzt worden), die andere reagiert mit einer entsprechenden Gegenprovokation (in diesem Fall wurden nach langer Zeit mal wieder südkoreanische Lautsprecherwände aufgestellt, die Propagandabeschallung über die Grenze schickten). Fast vorhersehbar und nahezu automatisch folgen darauf das einstudierte Säbelgerassel mit entsprechender Kriegsdrohung, hektisch-aufgeregte Krisenverhandlungen und die Belegung der Verstimmungen. So traurig solche Angelegenheiten auch sind, so bekannt kommen sie einem doch vor – nicht zuletzt deswegen, weil sie als zyklische Geschichte von Annäherung und Abstoßung erzählt werden kann. Déjà-vu-Effekte können sich nicht zuletzt deswegen einstellen, weil zumindest auf nordkoreanischer Seite das handelnde Personal eine hohe dynastische Kontinuität aufweist. Aber ansonsten man fast den Eindruck bekommen, dass sich dieser eingespielte, ritualisierte Konflikt auch deswegen nicht auflösen lässt, weil keine alternativen Formen gefunden werden können, um ihn historisch zu beschreiben.

Alles schon sortiert

Und man wird feststellen können: Auch das obligatorische Jubiläum darf nicht fehlen. Das Verlagshaus Gruner + Jahr wird 50 Jahre alt. Wenig überraschend wird dieser runde Geburtstag zu einer entsprechenden Jubiläumsveranstaltung im ehrenwerten Hamburger Rathaus genutzt, bei der offensichtlich genau das geschieht, was bei solchen Jubiläumsveranstaltungen zu geschehen hat. Man spricht ausreichend Festreden und Lobeshymnen und Dankesworte, in denen eifrig historisiert wird, in denen 50 Jahre Tradition beschworen und aus dieser Tradition Verpflichtungen für die Zukunft abgeleitet werden – auch wenn allen Beteiligten klar ist, dass die Notwendigkeiten der Gegenwart sich genau diejenige Vergangenheit produzieren, die man für eine jeweils erwünschte Zukunft braucht.

Sodann wird man feststellen können, dass auch die skurrile Geschichte des Tages nicht ohne historischen Einschlag auskommt. In der Nähe der Stadt San Cristovo de Cea in Galizien ist es offensichtlich gelungen, eine 6000 Jahre alte prähistorische Grabstätte durch eine brandneue Picknickbank-Installation zu ersetzen. Der Schaden ist groß, die Peinlichkeit noch größer. Die Schuld schieben sich die Verantwortlichen in gewohnter Manier gegenseitig zu. Die erstaunte mediale Zuschauerschaft dürfte anhand dieses markanten Beispiels den Verlust eines Stücks Vergangenheit betrauern, wie er auch ansonsten in vielfacher und weniger Aufsehen erregender Form tagtäglich irgendwo stattfindet. Sie dürfte sich aber auch fragen, wieviel von dieser Vergangenheit der dauerhaften Konservierung überantworten werden soll, bis vor lauter Vergangenheit kein Platz mehr für die Gegenwart ist.

Vor allem wird man aber feststellen müssen, dass alle Geschehnisse, die an diesem 28. August 2015 zum Gegenstand historischer Einordnung wurden, nur dazu gemacht werden konnten, weil sie gerade nicht mehr ‚jetzt‘ waren. Erst durch den zeitlichen Abstand von einigen Minuten oder Stunden, von einem Tag oder gar Wochen und Jahren sind sie erzählbar geworden. Und gerade weil sie erzählt und damit in bereits bestehende historische Muster eingeordnet werden können (Aufstieg, Niedergang, Fortschritt, Zyklus, Tradition …), fällt es so schwer, an ihnen noch das zu entdecken, was möglicherweise nicht nur helfen könnte, andere Verständnisse von Geschichte, sondern zugleich andere Verständnisse von uns und unserer Wirklichkeit zu entwickeln. Dazu wäre es tatsächlich nötig, näher und genauer hinzusehen. Mit diesem genaueren Blick verliert man möglicherweise etwas aus dem Blick, das man die Gesamtheit ‚der Geschichte‘ nennen könnte. Aber es stellt sich nicht nur die Frage, wann und von wem diese ‚Gesamtheit‘ jemals in einer Form überblickt wurde, die dem Gegenstand auch nur halbwegs gerecht geworden wäre, sondern es stellt sich ebenso die Frage, ob nicht genau betrachtete und genau beschriebene exemplarische Geschichten hilfreicher sein könnten.

Irritierendes und Unerzählbares

Schließlich wird man feststellen müssen, dass sich genau deshalb die wichtigste und grausamste Nachricht dieses Tages nicht in einer vorgestanzten Weise historisieren lässt. Denn dafür fehlen nicht nur die angemessenen Worte, sondern dafür fehlen uns auch die 71 Lebensgeschichten, die in einem Laster kurz hinter der ungarisch-österreichischen Grenze ein brutales Ende gefunden haben. Vier Kindern, acht Frauen und 59 Männern wurde in diesem Laster auf bestialische Weise das Leben genommen. Nicht nur das Leid ist unvorstellbar, sondern es steht auch zu befürchten, dass ‚die Geschichte‘, die hinter diesem Ereignis steht, niemals hinreichend wird erzählt werden können: Warum diese Menschen (möglicherweise aus Syrien?) geflohen sind, was sie auf ihrem Weg erlebt haben, welchen Schleppern sie in die Hände fielen, welche Angst sie getrieben hat, welche Hoffnungen sie hatten. Und noch schlimmer: Weil diese Flucht nur jenseits der Grenzen der Legalität möglich war, steht sogar zu befürchten, dass nicht nur ihre Geschichten, sondern auch ihre Namen größtenteils unbekannt bleiben werden. Dabei wäre das eine Geschichte, die des Erzählens wert gewesen wäre, die uns möglicherweise mehr Aufschluss über unsere Welt geben könnte, als all die aggregierten Synthesen und statistisch untermauerten Zusammenfassungen. Aber hätten wir auch den Mut, uns eine solche Geschichte erzählen zu lassen, so dass sie uns hinreichend irritieren und verunsichern könnte?

Alles schon mal dagewesenRomantik

Vor kurzem wieder so ein Déjà-vu-Erlebnis gehabt: Das kennst du doch irgendwoher, hätte ich mir denken können, wenn ich in dem Moment einen vollständigen Satz gedacht hätte. Aber wahrscheinlich kam nur so etwas heraus wie: Ach! Und wenn ich statt Ach! schon einen vollständigen Satz hätte denken können, dann hätte er weniger lauten sollen, dass ich das da irgendwoher kenne, sondern eher, dass ich es irgendwannher kenne. Aber für solche Verstiegenheiten war die Zeit zu knapp. Da war das Ach! einfach schneller.

Unangenehm ist vor allem, dass ich gar nicht mehr genau sagen kann, was mir da so bekannt vorkam. Liegt wohl daran, dass es seit geraumer Zeit so viele Gelegenheiten gibt, Altbekanntem oder vermeintlich längst Vergangenem wieder zu begegnen. Da war man sich zum Beispiel mal im späten 20. Jahrhundert sicher, dass man die ganze Sache mit dem Nationalismus überwunden hätte, bis genau dieser Nationalismus seit den 1990er Jahren wieder fröhliche Urständ feiert und in den letzten 25 Jahren auch keine Anstalten gemacht hat, wieder zu verschwinden. Dabei geht es nicht nur um nationalistisch motivierte, kriegerische Auseinandersetzungen, sondern viel eher noch um die offensichtliche Hoffähigkeit und Veralltäglichung nationalistischer Positionen auf verschiedenen Ebenen der politischen Meinungsbildung. Ob man sich den Aufstieg nationalpopulistischer Parteien in den Niederlanden, in Skandinavien, Ungarn, Frankreich, Deutschland und sonstwo ansieht oder die eingeforderte Selbstverständlichkeit betrachtet, mit der nicht wenige fordern, gegen so genannte Migranten und so genannte Ausländer hetzen zu dürfen („Wir sind keine Nazis, wir sind Bürger“!) – mulmig muss einem werden, wenn es nicht einmal mehr einer gehörigen Wirtschaftskrise bedarf, um solche Emotionen zu schüren.

Die Religion wird gleich mitgenommen. Auch wenn sich die Pegida-Bewegung in hoffentlich nicht allzu ferner Zukunft in einem doppelten Sinn müde gelaufen haben sollte, wird es ersatzweise sicherlich andere Komplexitätsreduzierer geben, denen die Dinge gar nicht einfach genug sein können. Und ‚das Abendland‘, das auch dann wieder verteidigt werden soll, muss natürlich ein irgendwie – also eher diffus – christliches sein, so dass man weiterhin den Krieg der Religionen und Konfessionen ausrufen kann, weil man ja auch in diesen Religionen eine irgendwie geartete Identitäts- und Stabilitätsgarantie zu entdecken vermag.

Aber es sind eben nicht nur die offensichtlichen Beispiele von Nation und Religion, die einem im vergangenen Vierteljahrhundert temporale Schwindelgefühle verursachen konnten, weil das alles schon mal dagewesen ist und eigentlich schon längst abgehakt war. Auch in anderen, politisch gänzlich unverfänglichen Zusammenhängen kann einem das eine oder andere bekannt vorkommen. So können aufmerksame Beobachter kulturwissenschaftlicher Diskussionen zum Beispiel feststellen, wie in den vergangenen Jahren zunehmend versucht wird, den überbordenden Verunsicherungen und Unwägbarkeiten neue/alte Grundlagen entgegenzusetzen. Da gerät die Frage nach dem Sein und der Ontologie unversehens zu einer neuen Blüte, da wird gegen alle möglichen Spielarten von Konstruktivismus die Unmittelbarkeit einer Präsenz hervorgehoben oder da wird gegen nervende Relativierungen ein „Neuer Realismus“ ausgerufen. [1] Generell war das Geschimpfe gegen alles, was man als „postmodern“ bezeichnen konnte, ja schon immer groß, nun kommt es aber zunehmend auch aus den Reihen derjenigen, von denen man bisher immer denken durfte, dass sie eigentlich zu diesen „Postmodernen“ dazu gehören. Das scheint nach dem Motto zu laufen, dass dieses ganze theoretische Herumexperimentieren ja ganz nett war, nun aber mal Schluss mit dem Quatsch sei, weil es jetzt wieder ernst werde: Kriege, Krisen, Katastrophen! [2]

Eine zweite Romantik

Natürlich ist klar, woher wir das alles schon kennen, dieses zunächst ironisch-experimentelle Herumspielen, das aber schon recht bald übergeht in die Suche nach dem Eigentlichen, dem Essentiellen, dem Wirklich-Wahren, dem eigentlich Unfassbaren, das so groß ist, dass man sich ihm einfach nur noch hingeben kann. Unabhängig davon, ob dieses Eigentliche, mit dem wir es da zu tun haben und das alles übersteigt, nun Nation, Religion, Geist, Gott, Wirklichkeit, Wahrheit oder sonstwie heißt – es widersetzt sich letztendlich allen Differenzierungen und Theoretisierungen und kann in seiner Großartigkeit nur noch hingenommen werden. Die Romantik hat all das schon einmal ähnlich durchgespielt. Und in der Tat sind die Parallelen fast schon unheimlich: Zunächst haben wir es mit einer theoretischen Bewegung zu tun, die es unternimmt, die Grundlagen der sicher geglaubten Welt zu erschüttern (dort Aufklärung, hier Postmoderne), sodann eine politische Revolution, die mit dieser Erschütterung tatsächlich ernst macht (dort Französische Revolution 1789, hier die europäischen Revolutionen 1989/90), gefolgt von der schwierigen und zähen Aufarbeitung all dessen, was da geschehen ist. In der anschließend entstandenen Verwirrung, ausgelöst durch den Verlust einst sicher geglaubter Wirklichkeitsparameter, wird nicht ausschließlich, aber doch ganz merklich der Versuch beobachtbar, verlorene Gewissheiten wiederzugewinnen. Dann macht es mit einem Mal Sinn, sich wieder auf die Religion zu kaprizieren, die Nation zu vergöttern, die Wahrheit wertzuschätzen oder die Einheit in der Wirklichkeit wieder zu entdecken, weil in all diesen Essentialismen das endlose Differenzieren und Relativieren endlich ein Ende findet.

Diese zeitlichen und inhaltlichen Parallelen sind so frappierend, dass man doch wohl mit Fug und Recht davon sprechen könnte, wir lebten in einer zweiten Romantik (nach der „Zweiten Moderne“ wäre das ja durchaus folgerichtig). Und wäre dem so, hätten wir zwei ganz wichtige Erkenntnisse gewonnen: Erstens hätten wir bestimmte historische Verlaufsformen, wenn nicht sogar eine grundlegende historische Gesetzmäßigkeit ausfindig gemacht. Und zweitens könnten wir dann auf dieser Basis sogar voraussagen, wie sich zumindest in groben Zügen der weitere Verlauf der Entwicklungen vollziehen wird. Heureka!

Alles noch gar nicht dagewesen

Aber nein, so ist es natürlich nicht. War nur ein Scherz. Die Rede von einer zweiten Romantik (oder einem zweiten Wasauchimmer) mag zwar auf den ersten Blick einleuchtend erscheinen, erweist sich aber schnell als Popanz. Also keine Sorge, die Geschichte wiederholt sich nicht. Sie tut es nicht nur nicht, weil es verboten oder argumentativ zu einfach wäre. Auch tut sie es nicht, weil um 1800 einige Aspekte eine eher geringe Rolle gespielt haben, die uns um 2000 wesentlich stärker betreffen, zum Beispiel die globalen Kommunikationszusammenhänge, in die wir eingebunden sind (während die erste Romantik schon ein sehr europäisches Phänomen war), oder die überbordend große Rolle ökonomischer Fragen, die im frühen 19. Jahrhundert bei weitem nicht so bedeutsam waren. Sie tut es vor allem nicht, weil ein solcher Blick, der sich auf die Wiederkehr bestimmter historischer Verlaufsmuster konzentriert, nur das sieht und betont, was er sehen will. Alles Unpassende wird beiseitegeschoben. Und die Verwandtschaft der Jahreszahlen zu betonen (1789-1989) übersieht entweder, dass dazwischen doch zwei Jahrhunderte Differenz liegen, oder hat sich noch nicht wirklich von der Macht kabbalistischer Zahlenmystik befreit. Dem kann man dann möglicherweise historische Prozesse auch dadurch erklären, dass man auf die Namensähnlichkeit von Staatschefs verweist: Lenin-Stalin-Putin!

Aber ein gewisses Muster gibt es natürlich trotzdem. Allerdings liegt das weniger in ‚der Geschichte‘ (was auch immer mit diesem vermeintlich alles erklärenden Gottersatz gemeint sein mag), sondern eher bei uns. In der Art und Weise, wie wir uns auf abwesende Zeiten beziehen, wie wir mit Vergangenheit und Zukunft als Orientierungshorizonten operieren, versuchen wir unsere eigene Gegenwart zu organisieren. Und auf Verunsicherungen, die aus einem empfundenen oder tatsächlichen Übermaß an Veränderungen resultieren, kann man unter anderem reagieren, indem man auf vermeintlich überzeitlich gültige Grundlagen rekurriert. Dann müssen mit einem Mal die seltsamsten Konstrukte herhalten, um den Irritationen des Konstruktivismus zu entgehen. Dann werden Nation und Religion (natürlich die jeweils ‚eigene‘) mit einem Mal ebenso bedeutsam wie die Unbestreitbarkeit der einen Wahrheit oder der einen und einzigen Wirklichkeit. Gab es jemals eine bessere Zeit für postmoderne Dekonstruktionsarbeiter als diese, in der man sich allenthalben nach neuen Konstrukten sehnt?

Damit hätten wir aber kein historisches Grundgesetz formuliert, sondern höchstens Einsichten in die allzu menschlichen Unzulänglichkeiten gewonnen. Dass Verunsicherungen und Turbulenzen nicht angenehm sind, lässt sich schon aus der Genesis lernen. Aus dem Paradies vertrieben zu werden, war offensichtlich nicht besonders angenehm. Und seither suchen zumindest manche Vertreter der Gattung Mensch den Weg dorthin zurück, in die geordneten, sorgenlosen und ewig gültigen Verhältnisse eines Paradieses, in dem irgendeine höhere Instanz dafür sorgt, dass alles bleibt, wie es ist. Aber dieses Paradies wäre die Hölle.

Die Romantik des Historischen

Dummerweise sind von solchen Phänomenen der Re-Romantisierung alle historischen Tätigkeitsfelder ganz besonders betroffen. Insofern ist es kein Zufall, dass man es seit den 1990er Jahren mit einem unübersehbaren Geschichts- und Erinnerungsboom zu tun hat, bei dem nicht nur alles und jedes historisiert wird, sondern bei dem vor allem ‚die Geschichte‘ mal wieder die versichernden Antworten auf all die verunsichernden Fragen zu geben hat. Insofern muss ich mir tatsächlich Sorgen machen über die anhaltende Attraktivität meines eigenen Arbeitsgebiets.

Daher heißt es gegensteuern. Für alle, die es noch nicht mitbekommen haben sollten: Die Beschäftigung mit der Vergangenheit hat gerade nicht die Funktion, zur Orientierung und Identitätsbildung oder sonstigen Versicherungsmaßnahmen beizutragen. Das kann nur gelingen, wenn man nicht so genau hinsieht und das Gewesene als billiges Argumentationsarsenal missbraucht. Ganz im Gegenteil hat die Beschäftigung mit der Vergangenheit die Aufgabe, uns in unserer selbstverständlichen Bräsigkeit zu verunsichern, Alternativen aufzuzeigen, von denen wir noch nicht einmal wussten, dass sie existieren könnten, und das vermeintlich überzeitlich Gültige als zeitlich recht beschränkt vorzuführen. Und das gilt sowohl für die Suche nach unbezweifelbaren Grundlagen (schließlich muss man laut Wittgenstein an allem zweifeln – nur am Zweifel selbst nicht) wie auch für die Illusion von historischen Gesetzmäßigkeiten.

 

[1] Hans Ulrich Gumbrecht: Präsenz, Berlin 2012; Markus Gabriel (Hg.): Der Neue Realismus, Berlin 2014

[2] Dazu scheint zu passen, dass diese theoretischen Expermientierfelder gerade ihre eigene Historisierung erfahren: Ulrich Raulff: Wiedersehen mit den Siebzigern. Die wilden Jahre des Lesens, Stuttgart 2014; Philipp Felsch: Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte 1960-1990, München 2015.

An das Vergessen erinnernforget it

Kaum scheint uns alles zuhanden, müssen wir es auch schon wieder loswerden. Kaum ist die jüngste Medienrevolution entlarvt worden, doch nicht der Eintritt ins Paradies gewesen zu sein, müssen wir uns auch schon mit ihren höllischen Folgewirkungen herumschlagen. Kaum scheint es uns gelungen, schier endlose Mengen an Daten und Informationen halbwegs dauerhaft für einen erheblichen Teil der Menschheit verfügbar zu machen, sind wir uns nicht mehr sicher, ob das auch wirklich alles gewusst werden soll. Kaum glauben wir die Möglichkeiten an der Hand zu haben, an alles erinnern zu können, fällt uns auf, wie wichtig es ist, auch mal vergessen zu dürfen.

Am Beispiel des Rechts auf Vergessenwerden im Internet, das nun schon seit geraumer Zeit vor allem unter juristischen Vorzeichen diskutiert wird, lässt sich nicht nur einiges über unser Verhältnis zum „Neuland“-Medium lernen, sondern werden auch die temporalen Probleme offenbar, die jede Verschiebung im medialen Ensemble mit sich bringt.

Das Recht auf Vergessenwerden entweder einzufordern oder vehement abzulehnen, zeigt nicht zuletzt die widersprüchlich erscheinenden Folgewirkungen einer Demokratisierung von Informationen an (von Wissen würde ich hier ausdrücklich noch nicht sprechen wollen). Bei dem Versuch, einen möglichst großen Teil der Bevölkerung an der res publica, an den öffentlichen Angelegenheiten teilhaben zu lassen, setzt man nicht ganz zu Unrecht auf den Zugang und die Verbreitung entsprechender Informationen durch geeignete Medien. Mit dem Internet verband sich ja die Hoffnung, auf eben diesem Weg einen gehörigen Schritt weitergekommen, wenn nicht sogar bereits am Ziel angekommen zu sein. Wie sehr sich eine solche Hoffnung inzwischen als Illusion herausgestellt hat, können wir seit Jahren auf unterschiedliche Art und Weise erfahren. Erstens gibt die Kontrolle über das Medium immer noch ausreichende Möglichkeiten an die Hand, um zu bestimmen, was eine wie auch immer geartete Öffentlichkeit erfahren darf und was nicht. Zweitens bringt das Internet ganz neue Formen zur Herstellung von Arkanpolitik und Geheimwissen hervor, die zuvor überhaupt nicht möglich gewesen waren (worauf wir dann wieder durch Whistleblower hingewiesen werden). Und drittens schlägt die Demokratisierung von Informationen weniger bei den res publica als vielmehr bei den res privata durch. Und genau hier, bei den intimen Angelegenheiten, die nicht von allen problemlos in Erfahrung gebracht werden sollen, wird das Recht auf Vergessenwerden akut – beim peinlichen Partyfoto, dem Urlaubsvideo in allzu leichter Bekleidung oder einem despektierlichen Blogeintrag.

Stellt sich natürlich die Frage, was man höher bewertet wissen möchte, den freien und demokratischen Zugang zu Informationen oder die Wahrung der Privatsphäre. Zur Diskussion steht dann eine Grenzziehung, die sich niemals endgültig fixieren lässt, nämlich zwischen dem Beginn des Privaten und dem Ende des Öffentlichen. Müssen es sich Prominente gefallen lassen, dass ihre Urlaubsbilder im Netz verfügbar sind, weil es sich um Personen des öffentlichen Lebens handelt? Haben Arbeitgeber ein berechtigtes Interesse an den gefilmten Alkoholexzessen ihrer Angestellten, weil davon ihr Unternehmen unmittelbar betroffen ist? Hier steht nichts weniger auf dem Spiel als die Frage nach der Entgrenzung jedes einzelnen Lebens in die Allgemeinheit hinein.

Forget it!

Aber das ist ja nur die aktualitätsfixierte Seite des Themas, nur derjenige Aspekt, der Schlagzeilen zu produzieren verspricht, weil Semi- oder Vollprominente Gerichtsprozesse anstrengen oder in der Rubrik „Vermischtes und Skurriles“ junge Menschen auftauchen, die beim Bewerbungsgespräch mit ihrer nicht lebenslauftauglichen Vergangenheit konfrontiert werden. Daneben und darunter spielen sich aber andere Auseinandersetzungen um Grenzziehungen ab, die weniger das Private/Öffentliche, sondern eher das Gestern/Heute/Morgen und das Vergessensollen/Erinnernmüssen betreffen. Kann man also Vergessen dekretieren? Schließlich kennen wir alle diesen Gag aus der Psychologen-Trickkiste für blutige Anfänger: Was passiert, wenn man jemanden auffordert, auf gar keinen Fall an den rosa Elefanten zu denken? Eben…

Alle Formen der Zensur können von diesem Dilemma ein Lied singen. Gerade dann, wenn man es sich als Wahrer von guter Ordnung, Moral und Sitte zum Ziel gesetzt hat, eine bestimmte Verlautbarung, die gegen diese selbst gesetzten Prinzipien verstößt, in ihre Schranken zu weisen, gerade dann erfährt diese Verlautbarung besondere Aufmerksamkeit. Wenn man auf gar keinen Fall vergessen werden will, sollte man sich also intensiv darum bemühen, dass einen andere vergessen machen wollen – dann erhöht sich die Chance deutlich, erinnert zu werden. Womit wir auch schon beim nächsten Problem angelangt wären, inwieweit nämlich Vergessen entweder ein aktiver oder passiver Vorgang ist. Kann man sich tatsächlich dazu zwingen, etwas zu vergessen (siehe rosa Elefant) oder muss man nicht warten, bis bestimmte Erinnerungen durch andere überlagert werden?

Weil das aktive Vergessen auf einer individuellen und kognitionstheoretischen Ebene füglich zu bezweifeln ist, konnte Umberto Eco in einem viel zitierten Beitrag (aber welcher Beitrag von ihm wäre nicht viel zitiert?) auch zurecht behaupten, dass man eine Kunst des Vergessens vergessen könne. [1] Die Befürworter eines Rechts auf Vergessen könnten dem entgegnen, dass es ihnen darum auch gar nicht gehe. Die Kunst zur Auslöschung bestimmter individueller Gedächtnisinhalte interessiere sie gar nicht, vielmehr gehe es darum, bestimmte Inhalte für das kollektive Gedächtnis unzugänglich zu machen. Und damit wäre dann auch eine wichtige Präzisierung in der gesamten Diskussion um das Recht auf Vergessenwerden im Internet erreicht. Um das Vergessen geht es nämlich überhaupt nicht. Es geht nur darum, die Verbindungen zu kappen und die Spuren zu löschen, die zu bestimmten Inhalten hinführen könnten, und das vor allem bei der wichtigsten Suchmaschine Google. Vergessen wird hier also gar nichts, es wird höchstens das Suchen erschwert.

Aber das Signal ist natürlich trotzdem nicht zu unterschätzen, denn schon seit halben Ewigkeiten bemühen sich Kulturen darum, unliebsame Inhalte per Dekret aus dem kollektiven Gedächtnis zu entfernen. Bedeutsam wurde ein solches Vorgehen regelmäßig nach Kriegen, wenn in Friedensverträgen festgehalten wurde, dass alle Erinnerungen an begangene Grausamkeiten und Freveltaten ausgelöscht werden sollten. (Dieses Vergessensgebot hat sich erst im Verlauf der Kriege des 20. Jahrhunderts in das Gegenteil eines Erinnerungsgebots verkehrt.) Sollte bei solchen Bemühungen also die Grenze zwischen Gegenwart und Vergangenheit aufrecht erhalten werden, um den gewesenen Krieg nicht in das Heute hineinschwappen zu lassen, handelt es sich in Zeiten des Internet eher um den Versuch, die alles umfassende Technik nicht vollständig das eigene Leben bestimmen zu lassen. Aber um ein wirkliches Vergessen kann es natürlich nicht gehen. Es kann nur um eine symbolisch aufzurufende Markierung gehen, entsprechende Grenzziehungen einzuhalten. Wer sich daran nicht gebunden fühlt, wird problemlos Wege finden, das Recht auf Vergessenwerden zu vergessen.

Heute das Gestern von morgen bestimmen

Historisch interessant ist die gesamte Angelegenheit, weil wir es hier auch mit einem Versuch zu tun haben, Grenzen zwischen den Zeiten zu ziehen. Schließlich steckt hinter dem Recht auf Vergessenwerden ganz wesentlich der Versuch, ein bestimmtes Stück Vergangenheit im Orkus verschwinden zu lassen, und damit heute schon bestimmen zu wollen, was man morgen noch über das Gestern wissen kann. Das hat bereits diverse Menschen und Gruppen auf den Plan gerufen, die sich gegen eine Zensur der Vergangenheit und damit einhergehende Konsequenzen für die historische Forschung gewendet haben.

Dieser Aspekt ist wahrlich nicht zu unterschätzen. Denn in der Tat ist hier das Bemühen zu beobachten, schon heute eine Vergangenheit zu kreieren, die erst morgen relevant werden dürfte. Zugleich ist die gesamte Diskussion in einen größeren Rahmen einzuordnen. Menschen und Kulturen waren zu allen Zeiten mittels unterschiedlicher Techniken darum bemüht, nicht nur Erinnerungen zu bewahren, sondern auch das Vergessen aktiv zu befördern (damnatio memoriae). Und auch wir, hier und heute, in den vergangenheitsseligen Zeiten des frühen 21. Jahrhunderts, sind auf vielfachem Weg darum bemüht, die Vergangenheit von morgen zu produzieren. Sehen wir uns doch nur die Praxis derjenigen an, die aus durchaus berechtigten Gründen das Recht auf Vergessenwerden fürchten: In Archiven werden die Konsequenzen diskutiert, die mit entsprechenden juristischen Regelungen einhergehen könnten. Aber was tun denn die Archive selbst, wenn nicht als Vergessensmaschinen zu fungieren? Im Gegensatz zu der zuweilen immer noch anzutreffenden Überzeugung, dass Archive vor allem dazu da seien, Dokumente übe die Zeiten hinweg aufzubewahren, die für Institutionen und Kollektive von Bedeutung sind, muss man festhalten, dass das weniger als die halbe Wahrheit ist. Archive sind in wesentlich größerem Maß damit beschäftigt, Erinnerungen zu tilgen, weil sie das allermeiste Material, das ihnen zugeführt wird (deutlich über 90%) vernichten müssen. Hier geht es vielleicht weniger um die Frage, ob man vergessen darf (oder muss), sondern eher um die Frage, wer darüber entscheiden kann, was vergessen werden darf.

Das Recht auf Vergessenwerden allein auf Internetsuchmaschinen zu delegieren, ist also reichlich kurz gesprungen. Denn es sind nicht Maschinen, die vergessen, sondern es sind Menschen, die vergessen sollen. Das menschliche Vergessen steht aber nicht nur unter einem gewissen kognitiven Vorbehalt, sondern hängt auch von der Benutzung anderer Medien als dem Internet ab (die soll es ja geben!) sowie von den Anstrengungen, die man auf sich zu nehmen bereit ist. Denn sich zu erinnern, erfordert tatsächlich Mühe. Unterlässt man diesen Energieaufwand, ist dem Vergessen kaum Einhalt zu gebieten.

Würde man den Versuch einer quantifizierenden Bestandsaufnahme unternehmen, würde sich wohl ohne weiteres herausstellen, dass im Umgang mit der Vergangenheit das Vergessen ohnehin der wesentlich normalere Vorgang als das Erinnern ist. Geht wohl auch gar nicht anders, denn wie schon Jorge Luis Borges wusste, würde das vollkommene Gedächtnis zur ebenso vollkommenen Lebensunfähigkeit führen. [2] Möglicherweise werden solche Überlegungen gemieden, weil sie das unumgängliche Paradox vor Augen führen, das unser Verhältnis mit der Vergangenheit prägt, es nämlich mit einer anwesenden Abwesenheit zu tun zu haben. Die Vergangenheit existiert nicht mehr, und gerade deswegen müssen wir zumindest einige letzte Spurenelemente davon gegenwärtig halten. Das Recht auf Vergessenwerden scheint in diesem schütteren Rest von Vergangenem noch mehr weiße Flecken produzieren zu wollen. Vielleicht ist die Diskussion darum aber auch nur ein Ausdruck unseres Unbehagens, das uns angesichts der medialen Möglichkeiten umfassender Geschichtsproduktion auf allen gesellschaftlichen Ebenen überfällt. Vielleicht wollen wir nur das Paradox einer Vergangenheit zurückhaben, die wirklich vergangen und nur deshalb gegenwärtig ist.

 

[1] Umberto Eco: An Ars Oblivionalis? Forget it!, in: Publications of the Modern Language Association (PMLA) 103 (1988) 254-261.

[2] Jorge Luis Borges: Das unerbittliche Gedächtnis, in: ders., Fiktionen. Erzählungen 1939-1944, 6. Aufl. Frankfurt a.M. 1999, 95-104.

Gefahr von außen?europa

Jetzt liegen sie in ihren Särgen, die 17 Opfer der Anschläge von Paris. Jetzt sind sie zur Strecke gebracht, die Mörder dieser 17 Menschen, die mit erschreckender Kaltblütigkeit und Konsequenz ihre Anschläge durchgeführt haben. Jetzt finden sie statt, die Kundgebungen und Trauermärsche, die das so wichtige Signal aussenden, vor dieser Brutalität nicht zu kapitulieren. Und jetzt, im Angesicht dieser Särge und dieser Gewalt und dieser Emotionen, werden sie wieder beschworen, die europäischen Werte, die es gegen ihre Feinde zu verteidigen gelte und die Europa enger zusammenrücken lassen sollen.

In dieser Weise von der ‚Verteidigung‘ der europäischen Werte zu sprechen, wie es seit dem 7. Januar 2015 allenthalben geschieht, ruft unmittelbar eine äußere oder zumindest fremde Bedrohung auf, die nach Europa eingedrungen ist und dessen Werte gefährdet. Das Dumme ist nur: Die Attentäter von Paris kamen nicht von außen. Sie waren nicht fremd, sie waren keine Eindringlinge. Vielmehr sind sie ausgiebig mit diesen Werten in Kontakt gekommen und damit groß geworden. Auch die Attentäter auf die Londoner U-Bahn im Jahr 2005 kamen nicht von außen, sondern waren in England geboren und aufgewachsen. Auch der versuchte Anschlag auf den Bonner Hauptbahnhof 2012 wurde von Menschen geplant, die – wie es so schön einvernehmlich heißt – aus der ‚Mitte dieser Gesellschaft‘ kommen.

Gegen wen müssen wir uns also verteidigen? Und was müssen wir verteidigen? Wenn man nach einer Konkretisierung derjenigen Werte fragt, die da gegen ihre Feinde beschützt werden sollen, kommt ein recht bekannter Katalog zusammen, der unter anderem Komponenten wie Toleranz, Meinungsfreiheit, Unverletzlichkeit der Person, Gleichheit vor dem Recht, Demokratie und andere wichtige Errungenschaften mehr enthält.

Das sind Inhalte, auf die man sich mehrheitlich ohne weiteres wird verständigen können. Aber ist das nicht ein recht idealistischer und auch unvollständiger Katalog, mit dem wir es da zu tun haben? Gibt es denn nicht noch andere Werte, die diesen Kontinent kennzeichnen? Wie steht es denn mit Formen des Wirtschaftens, mit der Wertschätzung von Reichtum und Einfluss sowie mit all den weitreichenden gesellschaftlichen und politischen Konsequenzen, die sich daraus ergeben – ist das denn etwa kein Wert, der diesen Kontinent prägt?

Wie auch immer man die europäischen Werte genauer kennzeichnen will, sie mussten nicht nur in zahlreichen und langwierigen Auseinandersetzungen historisch erst einmal erkämpfen werden – wir haben es zusätzlich mit dem Problem zu tun, dass uns eben diese aufklärerischen Werte in ein notorisches und kaum aufzulösendes Paradox stürzen. Es handelt sich dabei um etwas anderes als um die (nicht minder notorische) Dialektik der Aufklärung, die sich nach gut dialektischer Manier ja irgendwann und irgendwie in eine Synthese auflösen müsste, sei es nun die totale Katastrophe (wie bei Horkheimer und Adorno) oder sei es das rationale und liberale Paradies (wie bei so manchen Vertretern des Posthistoire). Im Gegensatz dazu lässt sich das Paradox der Aufklärung nicht auflösen, sondern beschert allen, die sich darauf verpflichten oder darauf verpflichtet wurden, regelmäßig weitreichende Dilemmata. Diese Spannungen lassen sich identifizieren als diejenigen Probleme, die in Erscheinung treten, sobald die Aufklärung auf sich selbst angewandt wird. Dann treten sie nämlich auf, die schwierigen Diskussionen, wieviel Vielfalt man tatsächlich akzeptieren muss, wieviel Intoleranz man zu tolerieren hat und wie aufklärerisch es ist, die Aufklärung anderen auch gegen deren Willen aufzuzwingen. Steckt also nicht in den famosen europäischen Werten die Gefahr, sich potentiell auch gegen sich selbst zu richten? Wird denn ausreichend bedacht, ob diese europäischen Werte auch negative Komponenten enthalten könnten?

Fetisch Eigentum

Vergessen wir zum Beispiel nicht, woher die Bezeichnung ‚Toleranz‘ stammt. ‚Toleranz‘ bedeutet ‚Duldung‘ und war zunächst die mühsame erkämpfte Errungenschaft europäischer Kulturen des 16. und 17. Jahrhunderts, darauf zu verzichten, andersgläubige Christen (und nicht die ganz anderen Anderen!) nur deswegen zu erschlagen, weil sie zufällig nicht gerade Katholiken, Protestanten, Reformierte oder Mitglied einer anderen christlichen Religionsgemeinschaft waren. Von der Verfolgung dieser benachbarten Anderen abzusehen, bedeutete aber noch keineswegs, sie in ihrer Andersartigkeit und mit ihrer Vielfalt willkommen zu heißen. Sie wurden geduldet, aber keineswegs der Mehrheitsgesellschaft gleichgestellt.

Sicherlich machte die Aufklärung des 18. Jahrhunderts in dieser Hinsicht Fortschritte. Die Judenemanzipation wird immer wieder als wichtiges Beispiel angeführt, dass es zumindest in manchen Staaten zu einer spürbaren Verbesserung der Lebenssituation jüdischer Gemeinden kam (auch wenn diese ‚Emanzipation‘ zumeist mit der Erwartung verbunden war, dass sich die Juden der christlichen Mehrheitsgesellschaft angleichen sollten).

Aber man darf nicht übersehen, mit welchen Widersprüchen das gesamte aufklärerische Projekt von vornherein behaftet war. Es war geprägt durch Exklusionsmechanismen, weil Frauen sowie Menschen ohne Eigentum von der politischen Partizipation ganz selbstverständlich ausgeschlossen wurden. Es war geprägt von Schizophrenien, wenn man sich beispielsweise den Mitautor der ersten Menschenrechtserklärungen (in den USA und in Frankreich), Thomas Jefferson, bei der Abfassung hochmögender aufklärerischer Ideen vorstellen muss, während er gleichzeitig auf seine von Sklaven bewirtschafteten Ländereien blickt. Es war geprägt von einer elitären Hochnäsigkeit, die alle Wissensformen, die nicht den Prinzipien der Rationalität zu entsprechen vermochten, ihre Wertigkeit absprach – unabhängig davon, welchen Wert die Menschen diesen (beispielsweise magischen) Wissensformen zumaßen. Und nicht zuletzt war es geprägt von einem Eigentumsdenken (wesentlich geprägt durch John Locke), das man üblicherweise nicht unmittelbar mit der Aufklärung in Verbindung bringt, das für sie aber von konstitutioneller Bedeutung war. Denn durch den Schutz des Eigentums sollte der Einzelne (und tatsächlich zunächst nur der männlich Einzelne) vor den absolutistischen Zugriffen der Obrigkeit gewahrt bleiben und sollte zugleich zur politischen Partizipation berechtigt sein. Ohne Eigentum, so der auch in der Französischen Revolution konsequent umgesetzte Umkehrschluss, gab es auch keine wirtschaftlichen oder politischen Einflussmöglichkeiten.

Diese Fetischisierung des Eigentums samt aller sich daraus ergebenden Konsequenzen gehört eben auch zu den europäischen, aufklärerischen Werten, die zur Verteidigung anstehen. Angesichts der umfassenden Ökonomisierung europäischer Kulturen, wie wir sie derzeit beobachten, könnte man sogar auf die Idee kommen, dass es vor allem das Eigentum ist, das es zu verteidigen gilt. So lassen sich beispielsweise Pegida-Demonstranten verstehen, die sich gegen eine angebliche Massenzuwanderung von Flüchtlingen wehren, weil „die uns ja alles wegnehmen“. So lassen sich auch AfD-Wähler verstehen, die sich gegen den bösen Euro und die europäischen Schuldenstaaten zur Wehr setzen. Und so lässt sich eine ziemlich breite ‚Mitte der Gesellschaft‘ verstehen, die recht konsensuell gegen Hartz IV-Empfänger und vermeintliche ‚Sozialschmarotzer‘ wettert.

Europa gegen sich selbst verteidigen

Was passiert aber mit denjenigen, die in diesem hübschen Europa mit seinen gepflegten europäischen Werten aufwachsen, dabei aber vor allem die andere Seite der Aufklärung zu spüren bekommen? Die feststellen müssen, dass Toleranz nur Duldung und nicht freundliche Aufnahme bedeutet? Die feststellen müssen, dass Inklusion nur von ihnen gefordert, ihnen aber nicht entgegengebracht wird? Die feststellen müssen, dass man an den europäischen Errungenschaften und hehren Idealen eigentlich nur dann teilnehmen kann, wenn man die Voraussetzung ausreichenden Eigentums mitbringt? Die feststellen müssen, dass sie aufgrund der ihnen beständig zugeschriebenen Andersartigkeit („Wo kommst du denn her?“) vor allem mit den Exklusionsmechanismen konfrontiert werden, welche der Rekurs auf die europäischen Werte bereithält? Die feststellen müssen, dass ihnen von oben herab regelmäßig bescheinigt wird, dass andere kulturelle Werte als irrational und minderwertig verurteilt werden? Könnte es nicht sein, dass gerade eine solche Begegnung mit europäischen Werten dazu führt, sich davon abzukehren und nach Alternativen zu suchen?

Das bedeutet nun im Umkehrschluss natürlich nicht, die Aufklärung und die Werte, die sich Europa so gerne auf seine Fahne schreibt, über Bord zu werfen. Aber notwendig wird es sein, das Paradox auszuhalten, das uns diese Werte mitgeben, indem man sie auf sich selbst anwendet und beständig hinterfragt. Dann ließe sich möglicherweise auch eine Universalie finden, auf die man sich verpflichten könnte und die nicht gar so exklusiv europäisch daherkäme und nicht nur eine Idee der Aufklärung wäre: nämlich das gute Leben, das jedem ermöglicht werden soll und niemandem verweigert werden darf. Dieses gute Leben frönt nicht dem Luxus westlicher Industriegesellschaften beim Blättern in Hochglanz-Lifestyle-Magazinen, sondern lässt sich bestimmen als das Bemühen, weltweit eine Grundsicherung zu gewährleisten, die Nahrung, Schutz vor Gewalt, Gesundheitsversorgung, Zugang zu Bildungseinrichtungen und Rechtssicherheit ebenso umfasst wie die Achtsamkeit auf und das Zusammenleben mit der nicht-menschlichen Welt (die weit mehr ist als nur ‚unsere Umwelt‘).

Wenn Europa solche Werte verteidigen will, dann muss es das nicht nur gegen eine Gefahr tun, die allzu voreilig in einem andersartigen Außen angesiedelt wird. Verteidigen muss Europa solche Werte dann nicht zuletzt gegen sich selbst.

Es war einmal in Rompizzeria lepanto

Konrad Adam war in Rom. Ist wohl schon ein paar Jahre her, aber aus halbwegs aktuellem Anlass scheint ihm diese Reise wieder in Erinnerung gerufen worden zu sein. Bei dieser Romreise besuchte er den Palazzo eines namentlich nicht genannten Marchese an der Piazza Navona. Der Palazzo beherbergt die Fahne, die Don Juan d’Austria während der Schlacht von Lepanto am 7. Oktober 1571 auf seinem Schiff mit sich führte. Lepanto! Welch‘ Triumph der Christenheit über die ‚ungläubigen Erzfeinde‘ aus dem Osmanischen Reich! Und die Fahne, die als Zeuge für diesen unübertrefflichen Sieg bürgt, hängt immer noch in einem römischen Palazzo! Und Konrad Adam hat sie gesehen! (Sie zu berühren wagte er nicht, der weinrote Brokat schien ihm zu brüchig.) All das weckte in ihm die Erinnerung an dieses große Ereignis, an die Seeschlacht am Golf von Patras, als sich das Osmanische Reich und die „Heilige Liga“ (Papst, Spanien, Venedig, Genua, Malteser, einige italienische Fürstentümer) ein blutiges Gemetzel lieferten. Dabei versuchte, wie Konrad Adam es beschreibt, die „türkische Flotte die Schiffe der Liga zu umfahren und ihnen in den Rücken zu kommen“ (wie hinterhältig!). Aber: „Das Manöver misslang, die christlichen Streitkräfte erwiesen sich als disziplinierter und stärker.“ (Hatten wir auch nicht anders erwartet.) „Die Türken verloren an die 180 Schiffe, die Liga nur zwölf.“ (Dem Herrn sei‘s getrommelt!) „Und sie befreite an die 12.000 christliche Galeerensklaven, die für die Türken hatten rudern müssen.“ (Gloria! Victoria!)

Verfehlter Geschichtsunterricht

Weder der Besuch in einem römischen Palazzo noch die Erinnerung an Lepanto würde irgendjemanden interessieren – wenn es nicht zufällig als Artikel auf Seite 2 der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung stünde und wenn der Verfasser nicht zufällig Bundessprecher der Partei „Alternative für Deutschland“ wäre. [1] Eben jener Konrad Adam erinnert uns am christlichen Sonntag in einer Sonntagszeitung daran, welche Bedeutung Lepanto doch einst für die Christenheit besessen hat. Fragt sich nur, warum diese Erinnerung ausgerechnet in dieser Zeit?

Vielleicht geht es um ein wenig Geschichtsunterricht? Der Frühneuzeitler in mir freut sich natürlich, wenn ein Ereignis aus dem 16. Jahrhundert einen prominenten Platz im Politikteil einer großen Sonntagszeitung bekommt. Derselbe Frühneuzeitler in mir ärgert sich aber maßlos, wenn dieses Ereignis in derart verkürzender bis verfälschender Weise für propagandistische Zwecke missbraucht wird, so als seien seither nicht über vier Jahrhunderte ins Land gezogen. Was historisch gesehen an Lepanto wirklich wichtig war, sind zwei Dinge: Erstens verlor das Osmanische Reich (und nicht „die Türken“, wie Adam unkorrekt immer wieder schreibt) seinen Nimbus der Unbesiegbarkeit. Das hat den europäischen Mächten damals sichtlich gut getan. Zweitens löste Lepanto in ganz Europa einen nachhaltigen Propagandakrieg gegen die Osmanen aus, der sich in zahlreichen Gemälden, Kapellen, Festen, Flugblättern usw. niederschlug. Darin wurden die göttliche Fügung des Geschehens und die Bedeutung des militärischen Schlags gegen den ‚ungläubigen Erzfeind‘ gebührend gefeiert. Es scheint fast so, als wollte Adam hier nahtlos anschließen.

Ansonsten ist aber vor allem interessant, was Adam alles auslässt. Er erwähnt zum Beispiel nicht, dass das Heilige (sic!) Römische Reich Deutscher Nation an der Heiligen (sic!) Liga herzlich wenig Interesse hatte, sondern lieber den Separatfrieden mit den Osmanen aufrechterhalten wollte. Er erwähnt auch nicht, dass Frankreich viel eher an einem Bündnis mit den Osmanen als mit dem Papst, mit Spanien oder den italienischen Staaten interessiert war. Er erwähnt auch nicht, dass die Heilige Liga 1573 schon wieder auseinanderbrach und Venedig einen Separatfrieden mit den Osmanen schloss – weil ihnen Geschäfte und Kooperationen wichtiger erschienen als kostspielige Kriegsführung. Er erwähnt auch nicht die zahlreichen Auseinandersetzungen, die das Zustandekommen der Liga im Vorfeld massiv erschwerten. Er erwähnt auch nicht, dass diese Niederlage die Osmanen nur kurz schwächte; die Flotte war im Nu wieder aufgebaut, so dass Voltaire in einer historischen Rückschau die Vermutung äußern konnte, Lepanto mute eher wie ein Sieg der Osmanen an. Und schließlich erwähnt er auch nicht, dass nicht nur in den Galeeren der Osmanen christliche Sklaven als Ruderer schuften mussten. Auch die Galeeren der Spanier, Venezianer, Genuesen, Malteser oder des Papstes bewegten sich überraschenderweise nicht mit Ökostrom vorwärts, sondern mit der (unfreiwilligen) Hilfe – tausender christlicher Galeerensklaven! Nicht selten handelte es sich um Strafgefangene, für die das Verbüßen ihrer Strafe auf einem solchen Schiff einem nahezu sicheren Todesurteil glich. Aber um solche historischen Differenzierungen muss sich Konrad Adam nicht kümmern, denn dadurch könnte die eigentliche Botschaft verwässert werden.

An die Ruderbänke!

Es geht also nicht um Geschichtsunterricht, es geht auch nicht um ein Jubiläum dieser Schlacht, das demnächst anstehen würde – man wird also nicht ganz fehlgehen, dahinter eine (partei-)politische Intention vermuten zu dürfen. Schade, dass sich die FAS für so etwas hergibt. Garniert wird der Artikel zu allem Überfluss auch noch mit einem Gemälde von Vassilacchi, das untertitelt ist als „Untergang des Morgenlandes“. Eine Einladung für die anstehenden Pegida-Demonstrationen, bei denen sich „Lepanto“ vielleicht als neuer Schlachtruf etablieren wird.

Der Artikel firmiert unter dem kaum missverständlichen Titel „Wie die Christen schon einmal die Türken schlugen“. Das ruft doch geradezu nach Wiederholung! Also ab in die Boote, ihr AfD-Wähler und Pegida-Anhänger, schlagt die ‚Ungläubigen‘, wo ihr sie trefft! Aber passt auf, dass ihr nicht unter Deck landet, angekettet an die Ruderbänke, während oben andere das Kommando führen …

Was lernen wir aus diesem ansonsten gänzlich zu vernachlässigenden Beitrag?

  1. Missbrauche nicht die Vergangenheit in vereinfachender und verfälschender Form für billige politische Anliegen der Gegenwart.
  2. Wenn du schon von dieser Vergangenheit erzählst, dann tue es in möglichst komplexer, möglichst zahlreiche Aspekte berücksichtigender Form.
  3. Wenn du schon einen Artikel schreibst, in dem billige Ressentiments gegen Andere bedient werden, dann schreibe wenigstens einen guten Artikel. Üble Beiträge mit üblen Inhalten sind eine doppelte Beleidigung.
  4. Wenn du etwas aus Lepanto lernen willst, dann lerne dies: Es ist wirklich für alle Beteiligten besser, auf gegenseitige Anerkennung und Zusammenarbeit zu setzen als auf gegenseitiges Abschlachten.

Muss man so etwas wirklich noch hinschreiben?

[1] Konrad Adam, Wie die Christen schon einmal die Türken schlugen. Die Seeschlacht von Lepanto ist über 400 Jahre her. Der AfD-Politiker Konrad Adam ruft die Erinnerung wach, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 4. Januar 2015, S. 2.