Etablierte Muster
Man nehme einen x-beliebigen Tag. Zum Beispiel den 28. August 2015. Man befrage diesen Tag und das Umgehen mit diesem Tag daraufhin, wie in ihm und mit ihm ‚Geschichte‘ gemacht wird.
Dann wird man feststellen können, wie besorgte Meldungen davon zu berichten wissen, dass die sogenannte ‚deutsche Mittelschicht‘ im Schwinden begriffen ist. Nahezu selbstredend kann eine solche Feststellung nicht ohne eine kurze Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Bundesrepublik auskommen. Mit wenigen Sätzen lässt sich dann der bundesdeutsche Mythos aufrufen, wonach im Nachkriegswirtschaftswunderland im Prinzip allen Menschen die Möglichkeit offen gestanden habe, mit Fleiß und Arbeit den Aufstieg in eben diejenige Mittelschicht zu schaffen, die sich nun gerade zu verflüchtigen scheint. Da wird dann in höchster sprachlicher Konzentriertheit und auch mit erheblicher historischer Simplifizierung eine vermeintlich eindeutige Auf- beziehungsweise Abwärtsentwicklung beschrieben, deren größtes Problem nicht zuletzt darin zu besteht, weiterhin einem Fortschrittsmodell verpflichtet zu sein.
Dann wird man ebenfalls feststellen können, dass auf der anderen Seite der Erdkugel sich das politische Pingpong-Spiel zwischen Nord- und Südkorea im Sinne einer Wiederkehr des Immergleichen beschreiben lässt. Die eine Seite wirft der anderen eine Provokation vor (in diesem Fall sind zwei südkoreanische Soldaten durch eine Mine verletzt worden), die andere reagiert mit einer entsprechenden Gegenprovokation (in diesem Fall wurden nach langer Zeit mal wieder südkoreanische Lautsprecherwände aufgestellt, die Propagandabeschallung über die Grenze schickten). Fast vorhersehbar und nahezu automatisch folgen darauf das einstudierte Säbelgerassel mit entsprechender Kriegsdrohung, hektisch-aufgeregte Krisenverhandlungen und die Belegung der Verstimmungen. So traurig solche Angelegenheiten auch sind, so bekannt kommen sie einem doch vor – nicht zuletzt deswegen, weil sie als zyklische Geschichte von Annäherung und Abstoßung erzählt werden kann. Déjà-vu-Effekte können sich nicht zuletzt deswegen einstellen, weil zumindest auf nordkoreanischer Seite das handelnde Personal eine hohe dynastische Kontinuität aufweist. Aber ansonsten man fast den Eindruck bekommen, dass sich dieser eingespielte, ritualisierte Konflikt auch deswegen nicht auflösen lässt, weil keine alternativen Formen gefunden werden können, um ihn historisch zu beschreiben.
Alles schon sortiert
Und man wird feststellen können: Auch das obligatorische Jubiläum darf nicht fehlen. Das Verlagshaus Gruner + Jahr wird 50 Jahre alt. Wenig überraschend wird dieser runde Geburtstag zu einer entsprechenden Jubiläumsveranstaltung im ehrenwerten Hamburger Rathaus genutzt, bei der offensichtlich genau das geschieht, was bei solchen Jubiläumsveranstaltungen zu geschehen hat. Man spricht ausreichend Festreden und Lobeshymnen und Dankesworte, in denen eifrig historisiert wird, in denen 50 Jahre Tradition beschworen und aus dieser Tradition Verpflichtungen für die Zukunft abgeleitet werden – auch wenn allen Beteiligten klar ist, dass die Notwendigkeiten der Gegenwart sich genau diejenige Vergangenheit produzieren, die man für eine jeweils erwünschte Zukunft braucht.
Sodann wird man feststellen können, dass auch die skurrile Geschichte des Tages nicht ohne historischen Einschlag auskommt. In der Nähe der Stadt San Cristovo de Cea in Galizien ist es offensichtlich gelungen, eine 6000 Jahre alte prähistorische Grabstätte durch eine brandneue Picknickbank-Installation zu ersetzen. Der Schaden ist groß, die Peinlichkeit noch größer. Die Schuld schieben sich die Verantwortlichen in gewohnter Manier gegenseitig zu. Die erstaunte mediale Zuschauerschaft dürfte anhand dieses markanten Beispiels den Verlust eines Stücks Vergangenheit betrauern, wie er auch ansonsten in vielfacher und weniger Aufsehen erregender Form tagtäglich irgendwo stattfindet. Sie dürfte sich aber auch fragen, wieviel von dieser Vergangenheit der dauerhaften Konservierung überantworten werden soll, bis vor lauter Vergangenheit kein Platz mehr für die Gegenwart ist.
Vor allem wird man aber feststellen müssen, dass alle Geschehnisse, die an diesem 28. August 2015 zum Gegenstand historischer Einordnung wurden, nur dazu gemacht werden konnten, weil sie gerade nicht mehr ‚jetzt‘ waren. Erst durch den zeitlichen Abstand von einigen Minuten oder Stunden, von einem Tag oder gar Wochen und Jahren sind sie erzählbar geworden. Und gerade weil sie erzählt und damit in bereits bestehende historische Muster eingeordnet werden können (Aufstieg, Niedergang, Fortschritt, Zyklus, Tradition …), fällt es so schwer, an ihnen noch das zu entdecken, was möglicherweise nicht nur helfen könnte, andere Verständnisse von Geschichte, sondern zugleich andere Verständnisse von uns und unserer Wirklichkeit zu entwickeln. Dazu wäre es tatsächlich nötig, näher und genauer hinzusehen. Mit diesem genaueren Blick verliert man möglicherweise etwas aus dem Blick, das man die Gesamtheit ‚der Geschichte‘ nennen könnte. Aber es stellt sich nicht nur die Frage, wann und von wem diese ‚Gesamtheit‘ jemals in einer Form überblickt wurde, die dem Gegenstand auch nur halbwegs gerecht geworden wäre, sondern es stellt sich ebenso die Frage, ob nicht genau betrachtete und genau beschriebene exemplarische Geschichten hilfreicher sein könnten.
Irritierendes und Unerzählbares
Schließlich wird man feststellen müssen, dass sich genau deshalb die wichtigste und grausamste Nachricht dieses Tages nicht in einer vorgestanzten Weise historisieren lässt. Denn dafür fehlen nicht nur die angemessenen Worte, sondern dafür fehlen uns auch die 71 Lebensgeschichten, die in einem Laster kurz hinter der ungarisch-österreichischen Grenze ein brutales Ende gefunden haben. Vier Kindern, acht Frauen und 59 Männern wurde in diesem Laster auf bestialische Weise das Leben genommen. Nicht nur das Leid ist unvorstellbar, sondern es steht auch zu befürchten, dass ‚die Geschichte‘, die hinter diesem Ereignis steht, niemals hinreichend wird erzählt werden können: Warum diese Menschen (möglicherweise aus Syrien?) geflohen sind, was sie auf ihrem Weg erlebt haben, welchen Schleppern sie in die Hände fielen, welche Angst sie getrieben hat, welche Hoffnungen sie hatten. Und noch schlimmer: Weil diese Flucht nur jenseits der Grenzen der Legalität möglich war, steht sogar zu befürchten, dass nicht nur ihre Geschichten, sondern auch ihre Namen größtenteils unbekannt bleiben werden. Dabei wäre das eine Geschichte, die des Erzählens wert gewesen wäre, die uns möglicherweise mehr Aufschluss über unsere Welt geben könnte, als all die aggregierten Synthesen und statistisch untermauerten Zusammenfassungen. Aber hätten wir auch den Mut, uns eine solche Geschichte erzählen zu lassen, so dass sie uns hinreichend irritieren und verunsichern könnte?