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10.000 Jahre im Dunkel

Todesanzeige

Der Tod, ja sicherlich. Über so etwas kann man eigentlich nur Plattheiten von sich geben. Es sei denn, man macht es wie Elias Canetti [1] und gräbt sich hinein in dieses Thema, widmet sein ganzes Leben diesem Tod, in der beständigen Weigerung, ihn als das zu akzeptieren, was er ist: nicht einfach nur das Ende des Lebens, sondern die einzige, die wirklich einzige Gewissheit, die wir über unsere Zukunft besitzen. Eigentlich wäre eine solche Sicherheit schon ganze Menge, wenn da nicht an die Stelle der Ungewissheit über zukünftige Entwicklungen, die wir immer schnell zu beklagen bereit sind, eine Gewissheit treten würde, die ihr tödliches Finale kaum zu verbergen vermag. Es sei denn, man nimmt Zuflucht zu einem Gedicht von Jorge Luis Borges mit dem Titel „Jemand“ („Alguien“), in dem folgende eingeklammerte Erkenntnis zu lesen ist:

„(die Beweise für den Tod sind nur statistisch,

und jeder läuft Gefahr,

der erste Unsterbliche zu sein)“ [2]

Im Gegensatz zu den vielen Unsterblichkeitsphantasien, die durch sämtliche fiktionale Genres geistern, hat diese Überlegung den Charme der Statistik auf ihrer Seite. Anstatt sich auf Jungbrunnen, genetische Mutationen oder Auserwähltheitsfantasien zu verlassen, bezieht sich Borges auf die Gewissheit der großen Zahl: Irgendwann kann es passieren… Aber er spricht zurecht auch von der Gefahr der Unsterblichkeit. Wollte man das wirklich anstreben? Ich habe neulich von dem vermutlich ältesten Lebewesen der Welt erfahren: einem Riesenschwamm, der in den Gewässern der Antarktis beheimatet ist und mutmaßlich bis zu 10.000 Jahre alt wird. Das Geheimnis seines langen Lebens? Bewegungslos in durchschnittlich zwei Grad kaltem Wasser in ewiger Dunkelheit existieren und dabei die überlebenswichtigen Funktionen auf ein absolutes Minimum reduzieren. Wem’s gefällt …

Mein bester Freund ist Tod

Aber auch wenn wir wissen, dass der statistische Ausnahmefall der Unsterblichkeit uns nicht treffen wird, und auch wenn wir es nicht wirklich erstrebenswert finden, mehrere tausend Jahre alt zu werden: Dem Tod möchte man am liebsten doch aus dem Weg gehen. Und in eben dieser lebensgeschichtlichen Zwickmühle, eingezwängt zwischen der Gewissheit und ihrer Verweigerung, versagen nicht selten die Worte, die eigenen wie die fremden, und nehmen Zuflucht zu Floskeln, die man allerorten schon einmal vernommen hat. Finden Sie mal die passende Formulierung für eine angemessene Beileidsbekundung, die nicht mit den üblichen gestanzten Schablonen daherkommt! Da wird der Tod dann unausweichlich, aber zugleich unerwartet, da findet das lange Leben ein plötzliches Ende, da wird man vom Herrn gerufen oder auch heimgeholt, und da wird dann Abschied genommen in tiefer Trauer und großer Bestürzung.

Über die sprachliche Unbeholfenheit von Todesanzeigen wurden schon diverse Bücher veröffentlicht, Zeitungsartikel geschrieben und Internetseiten eingerichtet. Sie alle zeugen von der sprachlichen Hilflosigkeit angesichts des Existentiellen. Wenn man sich ein wenig mit den stilistischen Ausrutschern beschäftigt, die in diesen Ablebensbenachrichtigungen versammelt sind, dann kann man eigentlich nur hoffen, niemals in die Situation zu kommen, eine eben solche verfassen zu müssen. Schließlich handelt es sich um einen außergewöhnlichen und einmaligen Anlass, eine gravitätisch aufgeladene Situation, die durch einen besonderen Text gewürdigt werden soll – der dann aber auch schon einmal besonders daneben gehen kann. Manch mortale Stilblüte könnte es auch in den allgemeinen Sprachschatz schaffen. So wenn beispielsweise der Verstorbene „überraschend sanft entschlafen“ ist oder die sprachliche Bestürzung sich in dem Ausruf Bahn bricht: „Mein bester Freund ist Tod.“ Aber spätestens wenn eine „Persönlichkeit von ungeschmälerter Gültigkeit“ betrauert oder der Tod mit einem „Meteoriteneinschlag“ verglichen wird, dessen „Krater nie zu schließen“ ist, sollte man die Reisepässe bereithalten, weil die Grenze zur Peinlichkeit näher rückt.

Bei der Frage, wie man den Tod eines Menschen in angemessene Worte fassen soll, um dem gewesenen Leben halbwegs gerecht zu werden, ist die Option nicht ganz aus dem Auge zu verlieren, es vielleicht einfach zu lassen. Wenn die Worte versagen, kann man diesem Unvermögen auch ruhig einmal nachgeben.

Grenzbeschreitungen

Eine wichtige Funktion von Todesanzeigen lässt sich an einer anderen standardmäßigen Formulierung ablesen. Es geht um die paradoxe Angelegenheit, dass die Trauerfeier im „engsten Familienkreis“ stattfinden werde (also wurde selbst der enge Familienkreis noch einmal ausgedünnt, wohl um missliebige Verwandte erst gar nicht zu dieser Veranstaltung zuzulassen), diese angeblich sehr private Angelegenheit dann aber gleichzeitig möglichst öffentlichkeitswirksam verkündet wird. Am besten ist das natürlich bei halbwegs prominenten Menschen: Anzeige in die Süddeutsche und die FAZ und noch in ein paar andere Zeitungen, so dass es einige hunderttausend Menschen lesen können, aber zum Leichenschmaus wird dann nur eine Handvoll eingeladen. Guten Appetit.

Abgesehen von der befremdlichen Verwendung des Superlativs wäre damit eine zentrale Funktion dieser eigentlich doch seltsamen Textgattung auf den viel beschworenen Punkt gebracht: Todesanzeigen sollen ganz offensichtlich zwischen Privatheit und Öffentlichkeit vermitteln, wie sich bei einem Blick in deren Geschichte erweist. In dem Maße, in dem Sterben und Tod nicht mehr als weitgehend öffentliche Angelegenheiten zumindest in einem lokalen Kontext zelebriert werden konnten, in dem Maße also, in dem der Tod zu einer privaten und eigentlich sogar verschämten Angelegenheit wurde, mussten Todesanzeigen die Stelle der dahingeschiedenen Öffentlichkeit beim einst öffentlichen Dahinscheiden übernehmen.

Die Todesanzeige gibt den Noch-nicht-Toten, vulgo: Hinterbliebenen, die Möglichkeit, den Lesern das Lebensende als letztlich recht einschneidendes Ereignis mit unbestreitbar liminalem Charakter in seiner ganzen Grenzen aufzeigenden Existentialität vor Augen zu führen: Nicht nur die Sagbarkeits- und Peinlichkeitsgrenzen der Sprache spielen hier eine Rolle, auch nicht nur die allzu offensichtliche Begrenzung des Lebens oder die Grenzen zwischen Privatem und Öffentlichem werden in Todesanzeigen be- und verhandelt – es ist auch die Grenze zwischen den Zeiten, die hier immer wieder sichtbar wird.

Wir haben es mit einem aussagekräftigen Medium zu tun, in dem Kulturen die Zeit und die Zeiten behandeln, in dem Lebenszeit, Dauer, Schnelligkeit oder Ewigkeit (die ja bekanntlich recht lange dauert) thematisiert werden. Da sterben dann über 90-Jährige nicht nur plötzlich und unerwartet, sondern auch noch viel zu früh, gehen aber gleichzeitig in die Ewigkeit ein (zuweilen begleitet von dem Wunsch, den bereits Verstorbenen im Jenseits einen Gruß auszurichten). Da wird unmittelbare Gegenwärtigkeit evoziert, wenn Anzeigen mit dem Satz beginnen: „Ich bin gestorben“ oder „Mein Leben ist zu Ende und ich bedanke mich bei allen.“ Da wird (Individual-)Historisches kenntlich, wenn die Verwandten eines Verstorbenen dem „Rauchclub Germania“ für die Anteilnahme danken und man Mutmaßungen über die Todesursache anzustellen beginnt. Und da zeigt sich ganz fatal die Überschneidung der Zeiten, wenn ein noch Lebender kübelweise Beileidsbekundungen erhält, weil im selben Ort ein Namensidentischer das Zeitliche gesegnet hat. Diesseits und Jenseits. Jetzt und Einst, Immer-Noch und Nicht-Mehr liefern sich hier ein lustiges Stelldichein.

Wir haben es hier also mit einer bemerkenswerten Überkreuzung der Zeiten zu tun. Weit davon entfernt, nur das Ende eines individuellen Lebens und damit einer individuellen Zeit zu markieren, kann man Todesanzeigen gerade auch dahingehend bestimmen, dieses Ende der Zeit aufzuheben. Todesanzeigen fungieren als eine Art temporaler Propeller, der sich um die Gegenwart des Todes eines Menschen dreht und die Vergangenheit eines Lebens mit der Zukunft einer Erinnerung zu verbinden sucht. Und gerade weil es so schwierig ist, über den Tod zu reden oder gar zu schreiben, verraten diese Anzeigen viel über ihre Zeit und deren Verzeitungen.

 

[1] Elias Canetti, Das Buch gegen den Tod, München 2014.

[2] Jorge Luis Borges, Die zyklische Nacht. Gedichte 1934-1965, Frankfurt a.M. 1993, 151

Ins Innere des Rundenfußball

Seit Wochen schon ist der Blick fixiert auf die Kugel, in der Hoffnung, sie möge ihr Geheimnis preisgeben, sie möge Einsicht gewähren, in die Dinge, die da kommen werden, und sie möge Antwort geben auf die Frage, die alle umtreibt: Wer wird’s? Dummerweise ist die Kugel nicht aus Glas, auch nicht mehr aus Leder (selbst wenn sie etwas traditionsverbunden-metaphorisch immer noch so bezeichnet wird), sondern aus irgendeiner hochgezüchteten Kunststoffmischung, zu deren Entwicklung wahrscheinlich Summen aufgewendet wurden, für die man mancherorts ganze staatliche Sozialversorgungssysteme aufpäppeln könnte. Die Welt starrt auf den Fußball und versucht das Unmögliche, nämlich in die Zukunft zu blicken, um heute schon zu wissen, was morgen passieren wird und welche Mannschaft in einigen Wochen den Pokal in die Höhe heben darf. (Nur nebenbei: Warum ist es eigentlich nicht möglich, einmal einen ästhetisch ansprechenden Pokal zu entwerfen? Warum immer diese hässlichen Dinger? Die Fußball-WM-Statue ist noch nicht einmal das Schlimmste: Man sehe sich nur einmal den Pokal der Handball-Champions-League an. Sieht aus wie die Resteverwertung einer Zombie-Amputation.)

Eine nicht ganz unwesentliche Schwierigkeit besteht ja darin, dass hier etwas recht Einfaches und etwas recht Kompliziertes aufeinandertreffen. Während die Regeln des Fußballspiels im Prinzip noch einigermaßen überschaubar sind, macht der hohe Kontingenzfaktor (Physis und Psyche der Spieler, Taktik, Schiedsrichter, Publikum, Wetter …) schon die Prognose eines jeden Spiels zu einer unsicheren Angelegenheit, von der Vorhersage eines ganzen Turniers ganz zu schweigen. Da aber in allen Medien wesentlich mehr Zeit dafür aufgewendet wird, über den Fußball zu reden und zu schreiben als ihn tatsächlich spielen zu lassen, ergeht sich derzeit die halbe Welt in Prognosen, Spekulationen und Prophezeiungen. Da alle wesentlichen Erkenntnisse zum Fußballspiel bereits vom ehemaligen Reichs- beziehungsweise Bundestrainer Sepp Herberger formuliert worden sind, kann man sich seither entweder in hochspezialisierten Diskussionen oder in der Reproduktion von Leerformeln ergehen.

Die Dauer des Spiels

Nun verrät die Art und Weise, wie im Fußball mit Zeit umgegangen wird, einiges über das allgemeine kulturelle Verständnis von Zeit. Wie wird mit Hoffnungen und Ängsten, mit harten Fakten und vagen Vermutungen in einer Umgebung umgegangen, bei der die Anzahl der gesellschaftlichen Spielregeln sich noch einigermaßen überschauen lässt, bei der die soziale Praxis aber so viele Variationsmöglichkeiten bietet, dass der Verlauf hinreichend unsicher und damit hinreichend spannend bleibt? Beim Fußball und insbesondere bei der von einem mafiösen Männerbund organisierten Fußballweltmeisterschaft kann man Kulturen wie in einer Laborsituation dabei zusehen, wie sie sich temporal zu organisieren versuchen – und wie vielfältig die zur Verfügung stehenden Temporalitäten sind.

Das Prognostizieren wird unversehens zu einem Massenphänomen. Millionen von Menschen versuchen sich in der Vorhersage eines ausschnitthaften Geschehens für die kommenden vier Wochen, Tippgemeinschaften schießen wie Pilze aus dem Boden, Geld wird in Wettbüros investiert. Wissenschaft und Technik stehen dabei nicht an der Seitenlinie, sondern formieren die Schaltzentale im Mittelfeld. Die Intuition, der die meisten Fußballfans folgen würden, nämlich die Qualität und die bisherigen Erfolge der Mannschaften unter die Lupe zu nehmen, wird hierbei weitestgehend systematisiert. Alle nur denkbaren Faktoren werden in mehr oder minder komplexe Software-Programme eingespeist: Fifa-Weltranglistenplatz, Spielerdaten, Marktwert des Teams, bisherige Spiele gegen die jeweiligen Gegner, undsoweiter undsofort. Auf dieser Basis kann man Hochleistungsrechner dann beispielsweise alle möglichen Spiele des Turniers einige tausend Mal durchexerzieren lassen, um zu einem Ergebnis zu kommen, das die Kinder aus der Grundschule um die Ecke auch ohne diesen Aufwand schon kannten: dass nämlich entweder Brasilien oder Spanien oder Argentinien oder Deutschland Weltmeister wird. Oder auch nicht.

Hier feiert er also fröhliche Urständ, der alte Grundsatz der historia magistra vitae, wonach man aus der Lehren der Vergangenheit ohne Schaden klug werden kann, um in der Gegenwart das Richtige zu tun. Allerdings wird dieser Grundsatz zur Perfektion getrieben, weil es ja nicht nur um allgemeine Handlungsanweisungen geht, sondern um historische Gesetzmäßigkeiten. Auch wenn durch die Computersimulation nicht endgültige, sondern nur wahrscheinliche Sicherheiten prognostiziert werden, operiert dieses Vorgehen trotzdem nomothetisch. Man könnte also von vornherein nur diese vier Mannschaften zu einer dreitägigen Veranstaltung einladen, um unter ihnen den Titel ausspielen zu lassen. Aus irgendeinem Grund verzichtet die Fifa aber auf diese Variante …

Zugleich weiß jeder, dass solche Gesetzmäßigkeiten nichts wert sind. Denn wenn sie tatsächlich zuträfen, hätte Spanien beispielsweise nie irgendeinen Pokal gewinnen dürfen – weil sie über Jahrzehnte hinweg nie irgendetwas gewonnen haben, ergo in solchen Berechnungsmodellen auch nie auftauchten. Bis 2008. Und da kommt die zweite Form semi-rationaler/semi-magischer Zukunftsberechnungen – wortwörtlich – „ins Spiel“, nämlich die Banalstatistik, in der Fußballsprache auch „Serie“ genannt. Aus solchen Serien werden zumindest implizit gesetzmäßige Schlussfolgerungen für die Zukunft gezogen. Wenn ein Team 13-mal nicht verloren hat, bei sieben Turnieren hintereinander nie über das Achtelfinale hinausgekommen ist, immer als Favorit gehandelt wurde, aber nie geliefert hat, dann … Ja, was dann? Kann man irgendwelche Rückschlüsse daraus ziehen? Vielleicht diejenige, dass eine solche Serie und die damit einhergehende Regel genauso lange Gültigkeit besitzt, bis sie unterbrochen wird, damit eine andere Serie beginnen kann.

Der nächste Gegner

Auf einer noch wackligeren Datenbasis steht die Prognose, die man insbesondere in Deutschland immer wieder mal hören kann, dass man nämlich „jetzt mal wieder dran“ sei. Dahinter steht die angenommene Gesetzmäßigkeit, dass die deutsche Nationalmannschaft in einem gewissen Rhythmus einen internationalen Titel zu gewinnen habe und dass das nächste Intervall dieser Rhythmisierung nun schon überfällig sei. Damit verbinden sich nicht selten bestimmte Ideen von historischen Verlaufsmodellen, die sich im Prinzip nicht sehr von religiösen Geschichtsmodellierungen entfernt haben. Bestimmte Länder oder Städte wähnen „ihre“ Mannschaft beispielsweise auf einer göttlichen Mission, die unweigerlich im sportlichen Himmelreich enden müsse. Für die Anhänger des 1. FC Köln kann es beispielsweise immer nur nach oben gehen. Kaum ist der Aufstieg in die 1. Liga geschafft, wartet dort auch schon Meisterschale. Und selbst der nächste Abstieg wird unweigerlich als Zeichen gedeutet, dass es jetzt ja nur noch aufwärts gehen und der nächste Triumph nicht mehr fern sein könne. Fußballgeschichte als Heilsgeschichte – mit einem unweigerlich positiven Ausgang. Besonnene Gemüter (und gebürtige Düsseldorfer) müssen da zuweilen zur Ruhe mahnen. Das Gegenbeispiel wäre die portugiesische Nationalmannschaft, deren Auftreten regelmäßig mit dem Fado in Verbindung gebracht wird: schönes Spiel mit traurigem Ausgang. Portugal hat es sogar geschafft, mit einer hervorragenden Mannschaft im eigenen Land 2004 das Endspiel zu verlieren – gegen Griechenland! Und zwar nachdem man schon das Eröffnungsspiel verloren hat – gegen Griechenland! Wer wollte da noch am Wirken höherer Mächte zweifeln?

Niemand! Weshalb man am besten gleich versuchen sollte, sich auf die Seite dieser Mächte zu stellen. Denn mindestens ebenso populär und ernst genommen wie hochgezüchtete und hochtechnisierte Computerberechnungsmodelle sind die mehr oder minder magischen Formen der Zukunftsvorhersage. Zu internationalem Ruhm ist Krake Paul gelangt, der mit schlafwandlerischer Sicherheit die Spiele der Weltmeisterschaft 2010 „vorhergesagt“ hat – selbst wenn nüchterne Beobachter den Eindruck haben konnten, dass er einfach nur hungrig war. Inzwischen verfügt gefühlt jeder zweite Zoo beziehungsweise Tierbesitzer über ein Lebewesen mit entsprechenden seherischen Gaben. Elche, Gürteltiere, Pinguine, Möpse und, man höre und staune, sogar Kraken kommen allenthalben zum Einsatz. Das soll irgendwie witzig sein, auch wenn es gerade so komisch ist wie ein Scherz, der zum tausendsten Mal wiederholt wird. Selbst die Deutsche Bahn ist auf dieses Geschäftsmodell eingestiegen und preist irgendwelche Bahncards an, bei denen man den künftigen Weltmeister orakeln darf.

Auf welche überirdischen Mächte diese Orakel sich verlassen (vielleicht auf den Fußballgott?), ist in diesen semi-säkularisierten Zeiten nicht ganz sicher. Zumindest befleißigen sie sich anders als die Wahrscheinlichkeitsberechnungen nicht des Rückbezugs auf vergangene Zeiten. Der Ort der magischen Weisheit liegt im nebligen Irgendwo. Vielleicht auch nur in der Magengrube eines Tieres. Und selbst wenn man am Ende des Tages feststellen sollte, dass Magier und Rationalisten sowohl ein paar Treffer gelandet haben als auch mal wieder ganz ordentlich daneben lagen, dann bleiben vielleicht doch noch ein paar Einsichten zurück: dass wir uns aus Gründen der temporalen Orientierung irgendwie zu den ungreifbaren Zeiten namens Vergangenheit und Zukunft verhalten müssen; dass diese Formen der Verzeitung nicht nur variantenreich sind, sondern vor allem einigen Aufschluss über die verzeitenden Kulturen geben; und dass wir zwar nicht mehr aus der Vergangenheit für die Gegenwart lernen können, dass wir aber auch nichts anderes haben als die Vergangenheit, von dem wir lernen können.

Und damit ist in puncto Weltmeisterschaft eigentlich mehr oder minder klar, was passieren wird. Einer der Favoriten wird Weltmeister. Oder einer der sogenannten Geheimfavoriten macht es, die so geheim sind, dass alle ihre Namen kennen. Es sei denn natürlich, die Kontingenz des Historischen schlägt mal wieder gnadenlos zu, und alles kommt anders als alle sich das vorher ausgedacht haben. Soll schon vorgekommen sein, siehe Griechenland gegen Portugal oder die dänische Europameisterschaft 1992. Aber auch dafür gibt es dann ja wieder historische Gesetzmäßigkeiten, die man anführen kann: Zufall! Unglaublich! Wahnsinn!

faltenWann leben wir eigentlich?

Wenn die kritisch-zweifelnde Systemfrage aufgeworfen wird, dann geschieht das zumeist in räumlicher Hinsicht: „Ja, wo leben wir denn eigentlich?“ – das ist so ein Satz, der Empörungen der unterschiedlichsten Art zum Ausdruck zu bringen vermag. Interessanterweise gibt es die zeitliche Variante dieses Satzes meines Wissens nicht: „Ja, wann leben wir denn eigentlich?“ Eine solche Frage erscheint auch nicht sonderlich sinnvoll. Ein kurzer Blick auf Datum und Uhrzeit verschafft Klarheit: Wir leben jetzt. Eine Existenz in anderen Zeiten mag zwar wünschenswert sein, erweist sich aber hartnäckig als unmöglich.

Die Ergebnisse der Wahlen zum Europäischen Parlament hatten ein eindeutiges Datum. Sie wurden am 25. Mai 2014 abgeschlossen und gehören inzwischen der (allerjüngsten) Vergangenheit an. Das Ergebnis dieser Wahlen lässt aber nicht nur die Frage berechtigt erscheinen, wo wir denn hier leben, sondern auch wann das europäische Wahlvolk eigentlich leben möchte.

Abgesehen von der Wahlbeteiligung, die immer wieder Anlass zur Sorge bereitet, ist es das Abschneiden der Parteien an den politischen Rändern, das regelmäßig für Aufmerksamkeit sorgt. In diesem Jahr gab es für genau diese Sorge wohl so viel Anlass wie selten zuvor. Der Front National wurde in Frankreich zur stärksten Partei, die FPÖ fährt in Österreich Traumergebnisse ein, die UKIP proletet sich zu kontinentaler Aufmerksamkeit, auch aus in Dänemark, Finnland oder den Niederlanden ziehen rechtsgerichtete Parteien in das neue Parlament ein. Sie richten sich, ebenso wie die deutsche AfD, mehr oder minder deutlich gegen die Europäische Union – und lassen sich trotzdem in deren Vertretung wählen. Was in jedem Kleingärtnerverein aufgrund offensichtlicher Absurdität unmöglich wäre, nämlich einen bekennenden Feind des Kleingartenwesens in den Vorstand zu befördern, geht auf der europäischen Ebene problemlos. Das Paradox der Demokratie wird hier auf die Spitze getrieben, dass sich nämlich Menschen und Parteien in ein Parlament wählen lassen, um dort das Ziel zu verfolgen, genau dieses Parlament zum Verschwinden zu bringen – und somit an ihrer eigenen Abschaffung zu arbeiten.

Die Suche nach den Ursachen dieses nicht ganz überraschenden, weil bereits prognostizierten Ergebnisses wurde unmittelbar nach der Wahl hektisch aufgenommen, hielt ungefähr eine Woche an (immerhin so lange war diese Nachricht eine „Nachricht“), um dann nicht abgeschlossen, sondern abgebrochen zu werden. Bis zum nächsten Mal.

Was könnte der Grund dafür sein, dass Populisten unterschiedlicher Couleur mit einem Mal so erfolgreich sind? Es könnte natürlich an ihnen selbst liegen: Geschickte Despoten, die mit steilen, populistischen Thesen, mit dem Angebot einfacher Rezepte für komplexe Phänomene, mit einer gelungenen PR-Maschinerie und nicht zuletzt mit dem einen oder anderen exotischen Aperçu (Wilders‘ Frisur, die Pub-Auftritte von Farage, die Erbmonarchie der Familie Le Pen, die musikalischen Ausfälle von HC Strache) das leicht verführbare Wahlvolk um den Finger wickeln. Oder ist es doch der nicht auszurottende Mythos vom EU-Bürokratiemonster, mit dem man kleine Kinder erschrecken und die wahlberechtigte Bevölkerung Europas auf die Palme treiben kann? (Denn bekanntermaßen ist keine Bürokratie auch keine Lösung [1].) Oder liegt es vielleicht an der sogenannten „Bürgerferne“ der Europäischen Union, also an dem Umstand, dass die europäischen Einrichtungen noch unnahbarer wirken als andere Institutionen politischer Entscheidungsgewalt, weil sie nicht nur räumlich weit weg erscheinen, sondern auch aufgrund geringerer medialer Präsenz undurchschaubar anmuten? Und wenn die EU so „weit weg“ ist – so eine weitere mögliche Erklärung für dieses Ergebnis –, muss man die Wahlen zum Parlament (das ja nun tatsächlich verhältnismäßig wenige Kompetenzen besitzt) auch nicht sonderlich ernst nehmen, muss sie nicht durch eine hohe Wahlbeteiligung adeln und kann auch mal eine Partei am Rande des politischen Spektrums wählen, der man bei nationalen Wahlen die Stimme verweigern würde. All diese Faktoren werden eine Rolle spielen, erklären aber noch nicht hinreichend, warum europafeindliche Parteien mit dem Argument punkten konnten, das Europa eine Bedrohung sei, warum man die eigene Bevölkerung vor Europa schützen müsse, warum man die Union am besten gleich zerschlagen solle.

Ein temporaler Faltenwurf

Ich habe nicht den Eindruck, dass diejenigen, die sich bei diesen Wahlen gegen Europa ausgesprochen haben, in ein einfaches Rechts-Links-Schema eingeordnet werden können. Es sind nicht nur rechtsgerichtete Gruppierungen, sondern ebenso linke Parteien, die Europa massiv kritisch gegenüberstehen, wie die italienischen Cinque Stelle, die griechische Syriza oder die tschechischen Kommunisten. Europa hat also keinen Rechtsruck erlebt, wie man vielfach lesen konnte, sondern eher einen temporalen Faltenwurf. Denn die Europäische Union scheint ja nicht deswegen bedrohlich zu wirken, weil es „zu links“ oder „zu rechts“ wäre (wüsste denn irgendjemand aus dem Stegreif zu sagen, wie die politischen Gewichte im europäischen Parlament oder in der wesentlich einflussreicheren Kommission verteilt sind?). Europa wirkt bedrohlich – weil es Europa ist! Und hier haben wir es nicht nur bei den EU-Institutionen, sondern bei all den Ideen, Konzepten und Vorstellungen, die man mit „Europa“ verbinden kann, mit einer komplexen Gemengelage zu tun, die sich nicht mehr auf einfache Schemata herunterbrechen lässt.

Bei der Wahl zum europäischen Parlament sind also weniger eindeutige politische Lager gegeneinander angetreten als vielmehr unterschiedliche Verzeitungen aufeinandergeprallt. Es spricht einiges dafür, dass nicht zuletzt diejenigen mit dem europäischen Projekt unzufrieden sind, die sich als Verlierer von 1989 und seinen Folgen sehen. Die Dualismen, die das 20. Jahrhundert geprägt haben [2], waren zwar bereits zeitgenössisch zu simpel gestrickt, organisierten aber Wirklichkeit auf eine übersichtliche Weise. Nach 1989 und damit nach dem Versagen vereinfachter Geschichtsnarrative, nach dem Ende der Kalten-Kriegs-Rhetorik, nach dem Wiederauftreten vermeintlicher überkommener Nationalismen (nicht nur im ehemaligen Jugoslawien) sowie nach der wieder erstarkenden neuen Deutungsmacht von Religionen (die doch vermeintlich einer säkularisierten Welt nichts mehr zu suchen hatten) war die Situation, gelinde gesagt, unübersichtlich geworden. [3]

Die Gestrandeten im postideologischen Zeitalter konnten sich nun auf die neuen Offenheiten und Herausforderungen einlassen – oder sich von den Unübersichtlichkeiten und Bedrohungen überfordert fühlen. „Europa“ steht stellvertretend für die Reorganisation der politischen Welt, da es als neue supranationale Einrichtung die bis dahin gültigen Organisationsrahmen sprengt, ohne sie wirklich ersetzen zu können. An die Stelle der erwünschten nationalen Einheit rückt eine europäische Mannigfaltigkeit, die verunsichern kann. Gegen Europa zu stimmen, heißt daher nicht zuletzt, gegen diese als überkomplex wahrgenommene Vielfalt zu votieren. Allerdings wäre es irreführend, dieses Phänomen mit dem Stichwort der Ungleichzeitigkeit fassen zu wollen, so als hätten diejenigen, die sich gegen Europa richten, ein „falsches“ Bewusstsein, das es zu ändern gelte. Vielmehr haben wir es hier mit dem sehr üblichen Phänomen der Pluritemporalität zu tun, also mit einer Vielzeitigkeit, die es Menschen und Kollektiven ermöglicht, Früheres, Späteres und Gleichzeitiges auf unterschiedliche Art und Weise miteinander zu verknüpfen und vor allem auch mit diversen Bedeutungen zu versehen. [4] Insofern muss sich „Europa“ und müssen wir alle uns nicht nur der Frage stellen, wo wir denn eigentlich leben, sondern auch damit beschäftigen, wann wir denn eigentlich leben wollen.

 

[1] Robert Menasse: Der europäische Landbote. Die Wut der Bürger und der Friede Europas oder Warum die geschenkte Demokratie einer erkämpften weichen muss, Wien 2012; Hans Magnus Enzensberger: Sanftes Monster Brüssel oder Die Entmündigung Europas, Berlin 2011.

[2] Alain Badiou: Das Jahrhundert, 2. Aufl. Zürich 2010.

[3] Bruno Latour: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, 2. Aufl. Frankfurt a.M. 2002.

[4] Achim Landwehr: Von der ‚Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‘, in: Historische Zeitschrift 295 (2012) 1-34

Nach der ersten und der zweiten, hier nun die dritte Lieferung historischer Floskeln und Allgemeinplätze.

Ein Jahrhundertereignis!

jahrhundertereignisEs ist eigentlich zu offensichtlich, als dass man besonders viel Zeit dafür verschwenden müsste: Die beständige Ausrufung von Jahrhundertereignissen hat
schon seit geraumer Zeit solch inflationäre Ausmaße angenommen, dass sie sich selbst ad absurdum führt. So viele Jahrhunderte bleiben unserem Planeten gar nicht mehr, dass sie den entsprechenden einschneidenden Ereignissen noch zu entsprechen vermögen. Wenn es sich nicht um eine wirklich dröge Sisyphusarbeit handeln würde, könnte sich eine Auszählung all dieser proklamierten Jahrhundertereignisse einmal lohnen. Beinahe täglich findet irgendwo eines statt.

Eine Kultur geht recht verschwenderisch mit ihrer historischen Zeit um, wenn sie überall solche säkularen Geschehnisse ausmacht. Eine simple Google-Abfrage bringt unter anderem folgende Ergebnisse zutage: 50 Bewohner von Eichsfeld erlebten den Guss einer Glocke in Gescher als Jahrhundertereignis, der Bürgermeister von Waldstetten erklärte den Empfang der frisch gebackenen Skisprung-Olympiasiegerin Carina Vogt zum Jahrhundertereignis (der eigentlich nur noch durch einen Papst-Besuch zu toppen sei), in Schwäbisch Gmünd wurde die Einweihung des Einhorn-Tunnels und damit die Freigabe der teuersten Ortsumgehung Deutschlands als ein Jahrhundertereignis gefeiert und im März 2013 erwies sich das Einströmen grönländischer Polarluft nach Ostdeutschland mit entsprechenden Temperatur-Minusrekorden als meteorologisches Jahrhundertereignis. So weit, so bekannt. Diese Liste ließe sich endlos fortsetzen.

Dass solche Titulierungen nicht die Luxzahl wert sind, mit der sie einem vom Bildschirm entgegenflimmern, muss kaum erwähnt werden. Warum aber diese Sehnsucht, aus Hochwassern, Fußballspielen, Kirchenrenovierungen oder Landesgartenschauen immer gleich einen unumgänglichen Eintrag in die Geschichtsbücher zu machen? Abgesehen davon, dass es sich um einen unübersehbaren Mangel an sprachlicher Differenzierungsfähigkeit handelt (Weltberühmt in Radolfzell!), ist diese Suche nach historischen Superlativen, die sich kaum noch steigern lässt (es sei denn durch Ereignisse, die einem Jahrtausend oder gleich der ganzen Menschheit zur Denkwürdigkeit aufgegeben wären) ein typischer Ausfluss modernistischen und fortschrittsgeschichtlichen Denkens. Vielleicht zeigt sich nirgends deutlicher als gerade bei diesen vermeintlich nebensächlichen, nicht wirklich ernst zu nehmenden historischen Übertreibungen, wie sehr ein überhitztes Geschichtsdenken, das nur noch in olympischen Kategorien zu funktionieren vermag (höher! schneller! weiter!), inzwischen ins Leere läuft.

Geschichte wiederholt sich (nicht)

Kniffliger Fall eines historischen Gemeinplatzes, zumal er in zwei entgegengesetzten Varianten aufzutreten pflegt. Natürlich wiederholt sich Geschichte nicht – so möchte man voller Überzeugung ausrufen –, schließlich sehen wir uns einem linearen Zeitmodell verpflichtet, bei dem die Zeit aus dem Gestern kommt, um ohne Wenn und Aber in das Morgen fortzuschreiten. Mit einem solchen Verzicht auf die zyklische Wiederkehr des Gewesenen kann sich Geschichte nicht wiederholen. Und wenn selbst der zweite Hauptsatz der Thermodynamik nicht zu überzeugen vermag, so kann einen doch die Alltagserfahrung lehren, dass man das Gestern nicht zurückholen kann. Immer wieder ernüchterndes Beispiel: Klassentreffen.

Bevor wir die Wiederholung aber allzu schnell zu den Akten legen, lohnt sich unter Umständen ein genauerer Blick auf das Vokabular. Was war nochmal mit „Geschichte“ und was mit „Wiederholung“ gemeint? Dasjenige, was sich hier nicht wiederholen soll, scheint doch viel eher die Vergangenheit als ein Zeitraum zu sein, in dem wir all diejenigen Geschehnisse unterzubringen pflegen, die sich nicht mehr rückgängig machen lassen (eben das wäre der zweite Hauptsatz der Thermodynamik auf das Leben von Menschen und Kulturen angewandt). Geschichte ist hingegen bekanntermaßen die Erzählung, die wir uns selbst von dieser Vergangenheit erzählen. Und diese Geschichte lässt sich nicht nur wiederholen, es ist uns sogar ein kulturhistorisch gewachsenes Bedürfnis, diese Erzählung zu repetieren und zu variieren, immer wieder neu aufzufrischen und vielleicht sogar neue Seiten an ihr zu entdecken.

Was uns unmittelbar zur „Wiederholung“ führt. Nicht nur, dass die Wiederholung als Kulturtechnik ganz ungerechtfertigter Weise ein Schattendasein führt, weil sie mit unserem neuheitsversessenen Fortschritts- und Wachstumsdenken so gar nicht in Einklang zu bringen scheint (siehe oben: Jahrhundertereignisse!), sie wird zudem auch noch missverstanden, wenn man damit die Wiederkehr des identisch Gleichen zu bezeichnen meint. Aber die Wiederholung ist keine Kopie. Sie ist tatsächlich eine Wieder-Holung, also der Versuch, etwas erneut hervorzukramen, mit dem man sich schon einmal beschäftigt hat. Die Zeit, die zwischen einer ersten und einer späteren Auseinandersetzung mit einem bestimmten Gegenstand verstrichen ist, setzt aber bereits eine Differenz, die dafür sorgt, dass Wiederholung nicht mit Identität zu verwechseln ist. Schließlich haben sich beide Seiten in der Zwischenzeit gewandelt, der betrachtete Gegenstand sowie das betrachtende Subjekt. Und auch die erneute Beschäftigung wird eine Veränderung dieser Beziehung nach sich ziehen. Wiederholungen sind für die Konstitution unserer Kultur wesentlich bedeutsamer, als wir dies gemeinhin zuzugeben bereit sind.

Vielleicht wäre es daher Zeit für eine neue Floskel: Vergangenheit kann sich nicht wiederholen – Geschichte muss man wiederholen.

Die Vergangenheit ruhen lassen

Wenn die Vergangenheit schon der Container ist, in dem wir all die ehemaligen Aktualitäten unterbringen können, die sich nicht mehr rückgängig machen lassen (all die zerbrochenen Gläser, die sich nicht mehr zusammensetzen, die Jugendzeiten, die sich nicht noch einmal durchleben, die Ereignisse, die sich nicht mehr revidieren lassen), dann sollte sie doch auch der Ort sein, um all das loszuwerden, was uns bedrücken könnte. Vergessen wir also die Niederlagen, Peinlichkeiten, Beschämungen und Verletzungen, die wir ausgeteilt und empfangen haben, und verbrennen wir sie gemeinsam mit den Kalendern vom letzten Jahr.

Aber wenn das mit der Friedhofsruhe der Vergangenheit so einfach wäre, müsste man sie wohl kaum gesondert beschwören. Man darf eher den Verdacht haben, dass der Wunsch nach einer Vergangenheit, die abgeschlossen und vergessen sein möge, mit der Versicherung einhergeht, nicht erfüllt zu werden. Denn auch hier lehrt uns die Alltagserfahrung, dass man Gewesenes nicht einfach so abschütteln kann, dass die Geschichten uns nicht nur verfolgen, sondern zuweilen unwillentlich überfallen. Das Verlangen, die Vergangenheit ruhen zu lassen, wird also nicht selten dadurch konterkariert, dass die Vergangenheit uns nicht in Ruhe lässt.

Daraus lässt sich vielleicht weniger lernen, dass die Vergangenheit ein eigenständiges Leben unabhängig von unserem Wollen und Wirken führt und gewissermaßen autonom entscheiden könnte, wie und wo und wann sie uns auf die Pelle rückt. Eher könnte sich damit die Einsicht verbinden, dass der Mensch ein polychrones Wesen ist, das zwar in einem Hier und Jetzt existiert, dabei aber immer in der Lage ist, Relationen der unterschiedlichsten Art zu bereits Gewesenem und noch Kommendem aufzubauen. Und es sind diese Relationen, die sich nicht bis ins letzte kontrollieren lassen. Deswegen kann uns mitunter eine Vergangenheit nicht in Ruhe lassen, die schon längst (oder eben gerade nicht) erledigt zu sein scheint. Und deswegen kann uns auch eine Zukunft Angst einjagen (oder Hoffnung machen oder andere Gefühle auslösen), die uns noch gar nicht zur Verfügung steht.

Das missbrauchte Früherautobahn

Es gilt von einem Missbrauch zu berichten: Ein Missbrauch, der schon oft beklagt und in zahlreichen Fällen verübt wurde, dessen Alltäglichkeit eigentlich bekannt sein müsste, der sich aber trotzdem beständig wiederholt. Es geht um den Missbrauch an der Vergangenheit für unlautere Zwecke der Gegenwart.

Der Umgang mit der Vergangenheit bietet an sich zahlreiche Möglichkeiten. Leider werden eher wenige davon genutzt. Man könnte die Vergangenheit intensiv und in allen Details untersuchen, man könnte versuchen, mit Hilfe des Gestern ein besseres Heute zu basteln, und manche könnten sogar versucht sein, aus der Vergangenheit etwas zu lernen. Gerade in öffentlichen Schnellschussdebatten, im alltäglichen Gebrauch sowie in standardisierten Geschichtsvermittlungsverfahren herrscht jedoch nicht selten ein anderer Umgang mit der Vergangenheit vor: Man will dort nur bestätigt finden, was man ohnehin schon weiß.

Man muss es sich ja nicht kompliziert machen, wenn man es auch einfach haben kann. Aber wie einfach darf man es sich machen? Wie einfach darf man es sich insbesondere im Umgang mit denjenigen machen, die sich nicht mehr wehren können, weil sie bereits unter der Erde liegen? Und was helfen uns solche Vereinfachungen hier und heute?

Der bequeme Weg ins Gestern

Nehmen wir zur Verdeutlichung ein offensichtliches Beispiel. Die Einteilung in Geschichtsepochen ist eine etablierte und im europäischen Kontext schon seit mehreren Jahrhunderten geübte Praxis, die insbesondere zur Orientierung im historischen Durcheinander hilfreich sein mag, zugleich aber ihre unübersehbaren Schwierigkeiten hat. Diese Schwierigkeiten wurden schon weidlich diskutiert. Denn die Unterteilung in Antike, Mittelalter und Neuzeit (mitsamt allen Substrukturen) teilt das Schicksal aller Formen des Überblicks: Man erhält eine Übersicht über Vieles, muss dabei aber zwangsläufig vieles übersehen.

An dieser Stelle müssen nicht die vielfach geführten Debatten über das Pro und Contra von Epocheneinteilungen nacherzählt werden. Im Falle von übermäßiger Vereinfachung des Gewesenen wird man aber immer auf folgende paradoxe Situation stoßen: Dass Epocheneinteilungen die rückwärtsgewandten Konstrukte der Nachgeborenen sind, versteht sich von selbst. Die Menschen des Mittelalters hatten keine Ahnung davon, dass sie im „Mittelalter“ lebten. Fatal wird diese diskursive Anordnung jedoch dann, wenn die gleichen Nachgeborenen selbstverständlich annehmen, dass sich diese Menschen nun entsprechend des Konstrukts „Mittelalter“ zu benehmen hätten beziehungsweise sich wundern, wenn sie genau das nicht tun! Wenn das stark vereinfachte Abbild einer historischen Rückschau an die Stelle der Komplexität tatsächlicher Verhältnisse gesetzt wird – spätestens dann muss die geschichtswissenschaftliche Staatsanwaltschaft einschreiten und Anklage im Fall von übergroßer Simplifizierung erheben.

Je weiter vergangene Zeiten chronologisch von unserem eigenen Hier und Jetzt entfernt sind, umso schneller sind wir bereit, diese vergangenen Zeiten vergröbernd darzustellen. Auch das lässt sich ganz leicht belegen, wenn wir aktuelle Vorschläge für epochale Einschnitte in der westlich-europäischen Geschichte näher betrachten: Aufgrund von 9/11 ist 2001 der bisher letzte Vorschlag, 1989 ist ebenso ein offensichtlicher Kandidat, davor kann man 1972 (Ölkrise, Bericht des Club of Rome) oder 1968 als mögliche Kandidaten ausmachen, davor tummeln sich 1945 und 1914. Allein im (verlängerten) 20. Jahrhundert also sechs mögliche Epochenumbrüche. Davor muss man bereits ins Jahr 1789 springen, um einen nächsten epochalen Orientierungspunkt auszumachen, dann sind es wieder drei Jahrhunderte bis etwa 1500, dann gibt es einen Riesensprung bis etwa 500 – und danach verliert sich das Ganze in den Untiefen der Geschichte. Kompliziert ist also immer nur da, wo wir selbst sind. Davor wird es einfacher – zu einfach! Und wenn die Konstrukte, die wir fabrizieren, so übermächtig werden, dass sie den Blick auf die Vergangenheit nicht erhellen, sondern ihn verstellen, dann kann man nur sagen: Schafft die Epochen ab! Dann brauchen wir einen anderen, angemesseneren Blick auf vergangene Zeiten.

Was solcherart produziert wird, ist eine flache Geschichte, die keine Winkel und Kanten hat, keinen Widerstand bietet, sondern problemlos unseren Erwartungen unterworfen wird. Geschichte wird zweidimensional. Das ist in etwa so, als würden wir die Vielfalt einer Landschaft mit der Landkarte verwechseln, die wir von ihr angefertigt haben. Flache Geschichte ist die bequeme Möglichkeit, sich von all den Kompliziertheiten und Komplexitäten zu verabschieden, die eine intensive (und damit auch zeit- und arbeitsaufwändige) Beschäftigung mit der Vergangenheit mit sich bringt. Flache Geschichte ist die gut ausgebaute Autobahn zur historischen Erkenntnis. Aber wieviel Ignoranz verträgt die Vergangenheit, bevor sie zur Parodie verkommt?

Eine Ethik der Geschichtsschreibung

Der Ruf der akademischen Geschichtsschreibung mag nicht immer der beste sein, und dafür gibt es auch den einen oder anderen Grund: schlechter Stil, zum Beispiel, oder übergroße Spezialisierung. Aber die akademische Geschichtsschreibung übernimmt die wichtige, wenn auch nicht immer dankbare Aufgabe des Verkomplizierers, um der allenthalben vorhandenen Komplexitätsreduktion entgegenzuwirken. Und zumindest in dieser Rolle ist sie unverzichtbar. Sie muss uns vor Augen halten, dass die Dinge nicht so schlicht gestrickt sind, wie wir sie uns zuweilen machen.

Es geht also um nicht mehr und nicht weniger als um die Eindämmung der Arroganz der Gegenwart gegenüber der Vergangenheit. Wir müssen ihm begegnen, diesem hochnäsigen, modernisierungstheoretisch unterfütterten Auftritt eines Hier und Jetzt, das meint, den Höhepunkt menschlicher Entwicklungsfähigkeit erreicht zu  haben und vom hohen Ross auf dieses ominöse „Früher“ herabblicken zu können, um mit einem teils bedauernden, teils süffisanten Seufzer zu konstatieren: Die waren eben noch nicht so weit wir.

Wir brauchen daher nichts weniger als eine Ethik der Geschichtsschreibung. Es geht um die Mahnung an eine hinreichende Komplexität historischer Darstellungen. Vollständigkeit kann dabei gar nicht das Ziel sein, aber eine Form der Behandlung des Gestern, die dem Vergangenen gerecht wird, sollte schon geboten sein. Man kann das in eine einfache geschichtsethische Testfrage gießen: Wollen wir so von der Zukunft behandelt werden, wie wir gerade selbst die Vergangenheit behandeln?

Stellen wir die Vergangenheit als nicht vereinfachter dar, als wir unsere eigene Gegenwart dargestellt  wissen wollen. Denn ist das nicht das Schöne am Umgang mit der Vergangenheit: dass es am Ende immer komplizierter, verwickelter, bunter und damit auch erkenntnisreicher ist, als man sich das im Vorhinein ausgemalt hat?