Sie hat schon einige Tage auf dem Buckel, die berühmte, vielleicht sogar berüchtigte Sapir-Whorf-Hypothese vom linguistischen Relativismus (wahlweise auch Determinismus). Und wahrscheinlich muss man diese Debatte nicht gesondert bemühen, um zu der Einsicht zu gelangen, dass Sprechen, Denken und Wirklichkeit irgendwie miteinander zusammenhängen. Eine verflixt komplizierte Beziehung ist das. Aber keine Sorge, ich werde mich nicht anheischig machen, diese Dreiecksgeschichte hier mal eben klären zu wollen. Vielmehr soll dieser Hinweis nichts anderes sein als eben das: ein Hinweis. Und zwar um auf einen Problemzusammenhang aufmerksam zu machen, der uns tagtäglich begegnet (Von wegen: „Die Sonne geht auf“). Vergangene Zustände sind ja in einem besonderen Maße dafür anfällig, durch sprachliche Anordnung überhaupt erst geformt zu werden, schließlich sind sie vergangen, stehen also nicht mehr anders als sprachlich (oder sonstwie zeichenförmig) zur Verfügung. Und ungefähr das wollten Sapir und Whorf wohl zum Ausdruck bringen, dass die Art und Weise, wie wir über die Dinge sprechen, unser Denken über diese Dinge prägt. Die wissenschaftliche Diskussion beharrt zwar zurecht darauf, dass die Verhältnisse etwas komplizierter sind als in der angenommenen Einbahnstraße von „Sprache prägt Denken“. Aber dass die Diskussion immer noch geführt wird, ist schon wieder ein Hinweis: dass an diesem Problem nämlich etwas dran ist.
Mir gibt das die Möglichkeit, ein kleines lexikalisches Vorhaben in einen viel zu großen Zusammenhang einzuordnen, einer kleinen Spielerei einen ungemein schweren, goldenen Rahmen umzuhängen. Man könnte das Ganze bezeichnen als Histofloxikon: das Lexikon historischer Floskeln und Allgemeinplätze. Nicht sehr viel mehr als eine gänzlich unsystematische Sammlung einiger Alltagsweisheiten, die in Bezug auf Vergangenheit und Geschichte immer wieder Verwendung finden und offensichtlich nicht auszurotten sind. Zugleich aber Formeln, die unser Denken über Geschichte und Vergangenheit zu einem erheblichen Grad prägen und bei unreflektierter, allzu häufiger Verwendung zu nicht geringen Schwierigkeiten führen können. Auf Risiken und Nebenwirkungen ist im Folgenden einzugehen.
Sich in die Geschichte hineinversetzen
Eine meiner Lieblingsfloskeln. Üblicherweise vermeide ich es in der Begegnung mit anderen Menschen, meine akademische Spezialisierung allzu offensiv zu verlautbaren, um genau diesem Satz zu entgehen. Gelingt leider nicht immer. In einem Gespräch insistierte einmal ein behandelnder Arzt auf genauere Kenntnis meiner wissenschaftlichen Profession. Auf das Bekenntnis hin, dass ich Historiker sei, folgte eine kurze Pause, ein tiefes Durchatmen und ein (verschämter? irritierter? nachdenklicher? gar neidischer?) Blick zu Boden. Dann mir wieder ins Gesicht gesehen und die Frage gestellt, die mich sprachlos machte: Ob ich denn dann noch so viel mit dieser Welt zu tun hätte?
Nein! Natürlich nicht! Denn als professioneller Temponaut ziehe ich mir üblicherweise morgens nach dem Frühstück meinen Zeitanzug an (während sich Astronauten in einen Raumanzug zwängen müssen), um mit meiner Zeitmaschine in mein derzeitiges Arbeits- und Beobachtungsfeld der Vergangenheit hinabzugleiten. Beam me back, Scotty! Pünktlich zum Abendessen bin ich wieder zurück.
Wenn auch nicht gar so naiv, aber eine gewisse Form der Gegenwartsentrücktheit wird historisch arbeitenden Menschen mit schöner Regelmäßigkeit unterstellt. Viel schlimmer aber ist, dass im Alltagsverständnis nicht selten von der Beschäftigung mit der Geschichte eben eine solche Zeitentrückung erwartet und erhofft wird. Dann kommen sie zum Einsatz, diese bedenklichen Floskeln vom Hineinversetzen oder gar Sich-Versenken in vergangene Zustände.
Die Zeitmaschinenvorstellung ist im Zusammenhang mit historischem Arbeiten nicht auszurotten. Unsere unzureichende Vorstellung von „der Zeit“ als einer unilinearen Dimension, auf der man zumindest theoretisch hinauf- und hinabgleiten könne, nährt bis zum heutigen Tag die Illusion, dass die Konstruktion einer Zeitmaschine nur ein technisches Problem sei. Aber wenn das erst einmal gelöst wäre … Bis dahin müssen wir uns eben mit den zweitbesten Lösungen zufriedengeben, können Mittelaltermärkte veranstalten, historische Schlachten nachstellen, können uns in abgrundtief schlechten historischen Romanen dem „Strudel der Ereignisse“ hingeben oder in Fernseh-Doku-Fictions Geschichte „wieder lebendig“ werden lassen. Die Auseinandersetzung mit anderen Zeiten verkommt solcherart zum historischen Disney-Park und verzichtet auf jegliche Form der Kritik. Warum man sich aber nicht in die Vergangenheit hineinversetzen kann, mag eine andere Floskel verdeutlichen.
Einen Blick in die Vergangenheit werfen
Das ist abgemilderte Version des Zurückbeamens in die Historie: Man will nicht mehr selbst im Gestern anwesend sein (da warten ja Schmutz, Krankheiten, lebensbedrohliche Gefahren und schlechte Umgangsformen – kennt man ja aus den „lebendig erzählten“ Historienfilmen), man möchte nur einen kurzen Blick durch den Türspalt der Zeiten wagen. Die Vergangenheit wird auf diese Weise zum problemlos beobachtbaren Gestern, zum zeitlichen Nachbarn von Gegenüber, bei dem man mal eben schnell vorbeischauen könnte, um zu sehen, wie es denn damals so war. Anstatt über die Straße zu gehen, konsultiert man die „Quellen“ (eine weitere, höchst problematische Metapher), um etwas über die Vergangenheit zu erfahren.
Aber die erkenntniskritische Frage sei erlaubt, ob wir durch das historisch überlieferte Material hindurchsehen, um einen Blick in die Vergangenheit zu erhaschen, oder ob uns der Blick auf das alte Papier (oder Bild oder Objekt) nicht in der Gegenwart festhält, um die Frage zu provozieren, welche Relationen dieses überlieferte Material mit einer jeweiligen Gegenwart eingeht.
Man kann die Sache auch etwas kosmischer angehen: Es wird zuweilen behauptet, die einzige Möglichkeit, um der Vergangenheit tatsächlich ansichtig zu werden, sei ein Blick in den nächtlichen Sternenhimmel. Denn bekanntermaßen sehen wir dort oben nicht den gegenwärtigen Zustand des Universums, sondern nur das Licht, das seit unvorstellbar langer Zeit unterwegs ist, um uns von Sternen zu künden, die möglicherweise überhaupt nicht mehr existieren. Also sehen wir dort die Vergangenheit. Tatsächlich? Auch hier sollte man etwas genauer sein. Zunächst einmal sehen wir dort Licht sehr unterschiedlichen Alters, weil das Licht des Mondes nur wenige Sekunden, das Licht der Sonne wenige Minuten, das Licht des Andromeda-Nebels aber mehrere Millionen Jahre alt braucht, um bei uns einzutreffen. All diese verschiedenen Lichtzustände kommen in unserer Gegenwart, und nur in unserer Gegenwart in genau der gegebenen Form zusammen, um ein buntes, temporales Durcheinander zu ergeben, das unser Hier und Jetzt prägt. Sodann sollte man auch die Bewegungsrichtung nicht außer Acht lassen, mit der wir es zu tun haben. Denn nicht wir werfen unseren Blick zu den Sternen, sondern deren Licht kommt zu uns. Wir blicken also nicht in die Vergangenheit, sondern müssen warten, bis diese Vergangenheit uns erreicht, um unser gegenwärtiges Bild vom Sternenhimmel zu konstituieren. Schließlich und endlich haben wir es mit dem Licht als einem Medium zu tun, das Informationen über vergangene Zustände von anderen Sternen transportiert, das aber nicht „die Vergangenheit selbst“ ist.
Nicht anders sieht es mit historischen Dokumenten aus, die auf sehr unterschiedliche Art und Weise daran beteiligt sind, die temporale Verweisstruktur unserer Gegenwart zu konstituieren. Dieses historische Material haben wir nicht aus der Vergangenheit geholt, sondern es ist in unserer Gegenwart übriggeblieben, und es trägt als medialer Träger dazu bei, Relationen einer Gegenwart zu ihren Vergangenheiten zu ermöglichen, ohne „die Vergangenheit“ zu sein.
To be continued …
Lieber Kollege Landwehr,
danke! Volle Zustimmung. Die (nicht nur öffentliche) Beschäftigung mit Geschichte ist voll davon — und leider in besonderem Maße auch diejenige, die sich auf Unterricht und historisches Lernen bezieht.
Den Schülerinnen und Schüler „die Vergangenheit“ (wahlweise: „die Geschichte“) „näher bringen“ ist eine leider nicht nur von Studierenden und Referendaren, sondern auch Lehrplanmachern und Ausbildern immer wieder gebrauchte Formel. Als wenn es sinnvoll oder auch nur möglich wäre, die Kinder in die Vergangenheit zu versetzen oder den Abstand zu verkürzen. Weder sollen die Kinder (oder auch erwachsene Lernende) in der Zeit zurück versetzt werden,[1] noch soll jegliche Vergangenheit näher an die Gegenwart der Kinder heran.
Gemeint ist zumeist etwas anderes: Die Vergangenheit soll ihnen weniger fremd sein. Das klingt auf den ersten Blick deutlich anschlussfähiger — ist es aber eigentlich auch nicht: Manche (eigentlich alle) Vergangenheiten sind einfach „fremd“ — und beim historischen Lernen geht es nicht darum, sich dem Vergangenen anzuverwandeln.
Analoges gilt für die Formel des „sich in Vergangenheit hineinversetzens“, sie Sie reflektiert haben, natürlich auch im Blick auf Unterricht. Ihr Arzt meinte ja, dass Sie das als Historiker könnten; viele Lehrerinnen und Lehrer tun so, als könnten Sie das von den Schüler(inne)n auch noch verlangen. Das ist ein Problem für sich. Sowohl historiographisch (bzw. erkenntnislogisch) als auch pädagogisch stellt sich dabei die Frage, wann das denn als gelungen anzusehen sei.
Ein Schuh (um eine weitere Floskel zu verwenden) wird erst dann daraus, wenn die Zieldefinitionen die Schüler(innen) wie die Lehrpersonen ganz in ihrer Lebenswelt belassen. Aufgabe des historischen Denken-Lernens ist es dann, den zeitlichen Abstand zur Vergangenheit zu erkennen und die „inhaltlichen“ [2] Abstände, die Unterschiede hinsichtlich der Lebensumstände, Weltansichten, Epistemologien, Normen etc. zu reflektieren — die Fähigkeit dazu zu erwerben — das wäre Kompetenzorientierung.
Das hat ganz konkrete Auswirkungen auch auf Aufgabenstellungen: Oft gibt es im Geschichtsunterricht „projektive“ Aufgaben, die dem Perspektivenwechsel dienen sollen (Stichwort: „Multiperspektivität“). Die sehen dann zuweilen so aus, dass sich Schüler(innen) in eine Person aus der betrachteten Vergangenheit hineinversetzen und aus deren Perspektive ein Ereignis, einen Zusammenhang kommentieren sollen — etwa in einem Brief an eine Freundin etc.
Abgesehen davon, dass man dabei oft von einigen Einsichten über die betrachtete Zeit Abstand nehmen muss, wenn man eine solche Aufgabe fordert ohne die möglichen Perspektiven zu sehr einzuschränken (welche Sklavin der Antike konnte Briefe schreiben?) bleibt zu fragen, wann denn die Aufgabe als hinreichend gelöst gelten soll: Wenn der so verfasste Brief in sich widerspruchsfrei ist? Wenn er das zuvor im Unterricht gegebene Bild dieser Vergangenheit hinreichend bestätigt? Wenn er den gegenwärtigen Vorstellungen dessen, was sich denn Jugendliche in Briefen so berichten, bestätigt?
Solche Aufgaben sind nicht vollständig sinnlos — aber immer doch dann, wenn sie nicht auch die Reflexion darauf enthalten, was denn beim Versuch, sich in die Perspektive hinein zu versetzen, alles ge- und bedacht werden musste, wo Unsicherheit herrschte etc. mit enthalten — spätestens in der Besprechung im Plenum (man kann das ja gut machen — etwa indem jede Aufgabe doppelt vergeben und die Bearbeitungen nicht kompetitiv. wohl aber analytisch miteinander verglichen werden).
Daher: Große Ermunterung, diese kritischen Reflexionen auf die begrifflichen Unschärfen der Disziplin, aber gerade auch ihrer Handlungsfelder fortzusetzen.
Anmerkungen
[1] Nicht ganz ernst gemeint: Dann wären sie älter und erwachsener — das will man als Lehrer doch erreichen. Aber bei großen Zeitabständen wären sie dann wirklich alt oder schon tot – was man wiederum nicht wollen kann.
[2] Auch der Terminus „Inhalt“ gefällt mir in diesem Zusammenhang überhaupt nicht mehr. Sind das Inhalte der vergangenen Epochen? Dann wären diese Gefäße. Oder sollen es Inhalte der Köpfe der Schüler(innen) sein? Auch das kann nicht wirklich befriedigen. Ich ziehe es vor, von „Gegenständen“ zu sprechen.
Vielen Dank für diesen Kommentar aus geschichtsdidaktischer Perspektive! Das verdeutlicht einmal mehr den erkenntnistheoretischen Zirkelschluss, aus dem historisches Arbeiten sich schwerlich befreien kann. In jeder Geschichte stecke ich schon immer selber drin.
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